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Schutz vor Gewalt für Menschen mit Behinderungen

Menschenrechtliche Vorgaben

Menschen mit Behinderungen haben wie jeder Mensch das Recht auf ein gewaltfreies und selbstbestimmtes Leben. Das ist ein Menschenrecht. Die UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtet Deutschland ausdrücklich dazu, jede Form von Gewalt und Missbrauch an behinderten Menschen zu verhindern. Dazu müssen die Ursachen von Gewalt bekämpft und die Autonomie und die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen gefördert werden. Die Art der Leistungserbringung muss derart angepasst werden, dass allen Menschen mit Behinderungen ein selbstbestimmtes und würdevolles Leben ermöglicht wird. Die Erfüllung dieses Anspruchs und die Umsetzung der Rechte dieser Menschen darf nicht unter Abwägung von Ressourcen stehen.


Vor allem aber besteht die Pflicht, Menschen mit Behinderungen auf Augenhöhe und mit Respekt zu begegnen, ihre Selbstbestimmung zu achten und sie in allen sie berührenden Angelegenheiten zu beteiligen. Konkret verpflichtet die UN-Behindertenrechtskonvention Deutschland dazu, Menschen mit Behinderungen vor Gewalt, Missbrauch und Ausbeutung, vor Eingriffen in ihre persönliche Freiheit und ihre körperliche und seelische Unversehrtheit zu schützen (Artikel 14, 16 und 17 UN-BRK). Jegliche Form von Gewalt gegen behinderte Menschen ist grund- und menschenrechtlich verboten und nicht zu tolerieren. Diese Vorgaben gelten selbstverständlich für alle Menschen mit Behinderungen, unabhängig von der Art und Schwere der Beeinträchtigung. Die Träger der Eingliederungshilfe müssen eine fachgerechte Unterstützung sicherstellen, die die grund- und menschenrechtlichen Vorgaben erfüllt. Freiheitsentziehende Maßnahmen sind unbedingt zu vermeiden. Sie sind im deutschen Recht nur als letztes Mittel in absoluten Ausnahmesituationen erlaubt, wenn weniger einschränkende Maßnahmen gründlich abgewogen und für nicht anwendbar erklärt wurden. Die UN-Behindertenrechtskonvention geht von einem absoluten Verbot von Zwangsmaßnahmen aus.


Zum Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt verpflichtet auch das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt (Istanbul-Konvention). Es enthält konkrete Vorgaben an die staatlichen Akteure unter anderem zur Prävention, zum Schutz und zur Strafverfolgung von geschlechtsspezifischer Gewalt, ausdrücklich auch für Frauen und Mädchen mit Behinderungen (Artikel 4 Absatz 3 Istanbul-Konvention).


Die staatlichen Akteure in Deutschland haben dafür Sorge zu tragen, dass die Grund- und Menschenrechte in der Ausführung der Leistungen der Eingliederungshilfe geachtet werden. Der staatliche Schutzauftrag besteht darin, gesetzliche Regelungen zu schaffen, die die Leistungserbringung in der Praxis wirksam an die menschenrechtlichen Vorgaben knüpft. Die Einhaltung der Regelungen durch die Leistungserbringer ist zu evaluieren und wirksam zu überwachen.


Zentrale Handlungsempfehlungen

In der Regel sind es strukturelle Rahmenbedingungen, die zu Gewaltvorkommissen führen. Hier ist anzusetzen. Einen Gestaltungsauftrag gibt es an unterschiedlichen Stellen und damit eine geteilte Verantwortung. Das zeigt auch eine im September 2021 veröffentlichte Studie des Instituts für empirische Soziologie an der Universität Erlangen-Nürnberg im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Sie deckt Schutzlücken auf und macht eine Vielzahl von Empfehlungen. Die Empfehlung der Studie, die Personalressourcen und Personalschlüssel in Einrichtungen zu verbessern, um das Gewaltrisiko zu verringern, unterstützen der Bundesbehindertenbeauftragte und die Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechtskonvention des Deutschen Instituts für Menschenrechte ausdrücklich


1. Gewaltschutzkonzepte (§ 37a SGB IX)

Seit Juni 2021 verpflichtet erstmals eine bundesgesetzliche Regelung die Leistungserbringer zu Maßnahmen zum Schutz vor Gewalt, insbesondere zur Entwicklung und Umsetzung eines auf die Einrichtung oder Dienstleistungen zugeschnittenen Gewaltschutzkonzeptes (§ 37a Abs. 1 SGB IX). Diese neue Regelung ist sehr zu begrüßen. Nun gilt es, sie wirkungsvoll und flächendeckend in der Praxis umzusetzen. Mit der Einführung dieser sozialrechtlichen Verpflichtung muss der Gewaltschutz auf Seiten der Leistungserbringer einen prioritären Stellenwert in der Organisationsentwicklung erhalten. Zu verhindern ist, dass Konzepte lediglich „auf dem Papier“ existieren und in der Praxis nicht gelebt werden und keine Wirkung entfalten.


Die Leistungserbringer der freien Wohlfahrtspflege, aber auch privater Träger, im stationären und ambulanten Bereich sollten den gesetzlichen Auftrag aus § 37a Abs. 1 SGB IX umgehend umsetzen, indem sie


  • fortlaufende Organisationsentwicklungsprozesse unter wirksamer Beteiligung der Bewohner*innen und Beschäftigten anstoßen, die zum Erkennen und Verhindern jeder Form von Gewalt dienen und die Gewaltprävention in den Mittelpunkt stellen;

  • Gewaltschutzkonzepte partizipativ entwickeln, die Leitbilder, Verhaltenskodizes, Präventionstrainings für die Bewohner*innen und Fortbildungsangebote für die Fachkräfte sowie klare Vorgaben zu Ansprechpersonen und Verfahrensabläufen bei Gewaltvorkommnissen und Verdachtsfällen enthalten;

  • niedrigschwellige und barrierefreie Zugänge zu internen und vor allem zu unabhängigen externen Beschwerdestellen schaffen, über die die Bewohner*innen fortlaufend informiert sind;

  • alle Informationen in barrierefreien Formaten wie Leichte Sprache, Gebärdensprache und unterstützter Kommunikation anbieten;

  • bei der Entwicklung von Maßnahmen zur Gewaltprävention einen breiten Gewaltbegriff anlegen und den Schutz der Privat- und Intimsphäre und vor körperlicher, psychischer und sexualisierter Gewalt sowie die Achtung der reproduktiven Selbstbestimmung von Frauen mit Behinderungen und die Vermeidung der Anwendung von freiheitsentziehenden Maßnahmen (FEM) einbeziehen;

  • bei den Maßnahmen Aspekte von Intersektionalität berücksichtigen, sie geschlechtssensibel ausgestalten und auch Gefährdungslagen in den Blick nehmen, die sich aus Merkmalen wie der Migrationsgeschichte, dem Alter oder der sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität ergeben.


Der Bundesgesetzgeber sollte weitere verbindliche Vorgaben zum Gewaltschutz treffen.


Die Bundesregierung sollte dem Gesetzgeber einen Gesetzentwurf vorlegen, der die Gewaltschutzvorkehrungen im Sozialgesetzbuch ausbaut und konkretisiert.


Dieser sollte beinhalten:


  • Verpflichtende Mindestkriterien für Gewaltschutzkonzepte, die in § 37a Abs. 1 SGB IX verankert oder in einer Rechtsverordnung konkreter definiert werden, darunter die Entwicklung der Schutzkonzepte unter Beteiligung von Menschen mit Behinderungen, Vorgaben zu deren Überprüfung sowie niedrigschwellige Beschwerdeverfahren innerhalb und außerhalb von Einrichtungen;

  • eine unabhängige Stelle, die für die Qualitätssicherung und Zertifizierung von Gewaltschutzkonzepten nach § 37a Abs. 1 SGB IX zuständig ist;

  • qualitätsgesicherte und zertifizierte Gewaltschutzkonzepte als wesentliches Leistungsmerkmal im Vertragsrecht der Eingliederungshilfe (§ 124,125 SGB IX).


Durch die neue sozialrechtliche Regelung sind die Leistungsträger (Reha-Träger und Integrationsämter) in § 37a Abs. 2 SGB IX verpflichtet, darauf hinzuwirken, dass die Einrichtungen geeignete Gewaltschutzmaßnahmen treffen. Dabei bleibt ihnen ein großer Spielraum dahingehend, wie dem nachzukommen ist. Die Leistungsträger sollten auf Ebene ihrer Zusammenschlüsse und Arbeitsgemeinschaften festlegen, wie die Hinwirkungspflicht ausgestaltet werden soll, zum Beispiel, indem


  • für den Gewaltschutz zuständige Personen benannt und qualifiziert werden sowie eine Ansprechstelle für Leistungserbringer und Betroffene geschaffen wird;

  • die Umsetzung der gesetzlichen Anforderungen durch die Leistungserbringer regelmäßig evaluiert und statistisch erfasst wird;

  • den Leistungserbringern Vorgaben zu Berichtspflichten und zur regelmäßigen Aktualisierung der Gewaltschutzkonzepte gemacht werden;

  • sie sich mit den Heimaufsichtsbehörden der Länder und anderen involvierten Stellen zur Umsetzung der Maßnahmen zur Gewaltprävention durch die Leistungsträger austauschen.


2. Partizipation & Empowerment

Menschen mit Behinderungen müssen als Träger*innen von Rechten wahrgenommen und dazu ermächtigt werden, sich selbst als solche zu begreifen und sich gegen Grenzüberschreitungen zu wehren. In Situationen, in denen Erniedrigung, Gewalt oder Missbrauch drohen, müssen sie wissen: Das, was hier passiert, ist nicht in Ordnung. In Einrichtungen herrschen zu oft asymmetrische Machtverhältnisse. Die Menschen erleben den Alltag als von den Fachkräften strukturiert und haben zu wenig Privatsphäre. Geringes Wissen um die eigenen Rechte verhindert, dass Menschen mit Behinderungen sich gegen Übergriffe, auch durch Mitbewohner*innen und andere Beschäftigte, abgrenzen und hemmt ihre Bereitschaft, sich zu beschweren oder Unterstützung in Anspruch zu nehmen. Das Empowerment von Menschen mit Behinderungen – also ihre Selbstermächtigung – sowie die Partizipation behinderter Menschen in allen sie betreffenden Angelegenheiten sind Kernanliegen der UN- Behindertenrechtskonvention. Diese Prinzipien sind selbstverständlich auch in betreuten Wohnformen und Werkstätten anzuwenden. Das heißt konkret: Die Beteiligungsrechte der Bewohner*innen müssen gestärkt werden. Und sie sind in die Entwicklung von Maßnahmen zur Gewaltprävention aktiv einzubeziehen.


Derzeit sind Möglichkeiten zur Mitbestimmung in Einrichtungen häufig nur sehr eingeschränkt vorhanden. Aufgrund der besonderen Gewaltbetroffenheit von Frauen mit Behinderungen gibt es in Werkstätten und manchen Wohneinrichtungen Frauenbeauftragte aus den eigenen Reihen als Ansprechpersonen und Interessenvertreterinnen für Bewohnerinnen auch bei geschlechtsspezifischer Gewalt. Diese haben zu wenig Mitspracherechte und erhalten oft nur unzureichende Unterstützung durch das Fachpersonal und die Einrichtungsleitung. Die Studie des Instituts für empirische Soziologie an der Universität Erlangen-Nürnberg im Auftrag der Bundesregierung empfiehlt eine Stärkung der Beteiligungsrechte als ein wichtiges Element der Gewaltprävention.


Die Bundesregierung sollte


  • das Bundesnetzwerk der Frauenbeauftragten in Einrichtungen („Starke. Frauen.Machen.“) stärken, indem es für die Arbeit vor Ort und den Aufbau und Erhalt von Vernetzungsstrukturen auf Bundes- und Länderebene dauerhaft mit ausreichend finanziellen Mitteln ausgestattet wird;

  • Selbstvertretungsorganisationen, die zu Selbstbestimmung und Gewaltschutz arbeiten, wie Weibernetz e.V., dauerhaft und langfristig fördern, um ihnen zu ermöglichen Themen dauerhaft und kontinuierlich zu verfolgen und sie von der Notwendigkeit der ressourcenintensiven und wiederkehrenden Antragstellung als Projekt entbinden.


Die Landesgesetzgeber sollten


  • die Wohn- und Teilhabegesetze (Heimrecht) reformieren und um Gewaltschutzvorkehrungen ergänzen; dabei sollten unter anderem Frauenbeauftragte in Wohneinrichtungen in allen Bundesländern verpflichtend eingeführt und Vorgaben zu ihrer Begleitung durch eine unabhängige Fachkraft und zur regelmäßigen landesweiten Vernetzung der Frauenbeauftragten gemacht werden.


Die Leistungserbringer sollten


  • die Bewohner*innen in der Entwicklung von Maßnahmen zur Gewaltprävention nach § 37a SGB IX wirksam und umfassend beteiligen;

  • die Bewohner*innen-Beiräte und die Werkstatträte regelmäßig über den Gewaltschutz und das einrichtungsinterne Schutzkonzept informieren und fortbilden;

  • Frauenbeauftragte in Werkstätten und Wohneinrichtungen in ihrer Tätigkeit aktiv unterstützen, in Entscheidungsprozesse einbinden und die Rahmenbedingungen ihrer Arbeit verbessern, indem sie von einer unabhängigen Fachkraft unterstützt und für ihre Tätigkeit mit ausreichender Zeit freigestellt werden;

  • Frauen mit Behinderungen und andere besonders gefährdete Zielgruppen, wie LGBTQI* Personen oder Menschen mit Migrationsgeschichte, durch geeignete Empowerment-Schulungen gezielt über ihre Rechte, Ansprechpersonen und Schutzmöglichkeiten aufklären und hierzu regelmäßige Angebote machen;

  • die im Sozialgesetzbuch vorgesehenen „Übungen zur Stärkung des Selbstbewusstseins“ behinderter Mädchen und Frauen zur Gewaltprävention im Rehabilitationssport (§ 64 Abs. 1 Nr. 3 SGB IX) durch ein bundesweit flächendeckendes Leistungsangebot sicherstellen.


3. Intervention & Opferschutz

Studienergebnisse zeigen, dass das externe Unterstützungssystem bei Gewalterfahrungen (Beratungsstellen, Frauenhäuser) bisher in Wohneinrichtungen und Werkstätten nicht oder kaum bekannt ist, so dass Hilfe nicht in Anspruch genommen wird. Eine unzureichende Vernetzung mit den Einrichtungen der Eingliederungshilfe führt dazu, dass Gewaltvorfälle dort oft intern behandelt und als Einzelfälle abgetan werden. Ein weiteres Problem besteht darin, dass das externe Unterstützungssystem bei Gewalt nicht zielgruppengerecht für Menschen mit Behinderungen ausgestaltet ist – dabei geht es vor allem um bauliche, aber auch kommunikative Barrierefreiheit, etwa Verständigung in Leichter Sprache oder in Gebärdensprache sowie fehlendes Wissen der Fachkräfte über die Lebenslagen und Bedarfe behinderter Menschen.


Auch im Bereich des Strafverfahrens nach Gewaltvorkommnissen bestehen Defizite. So verfügen die beteiligten Berufsgruppen (Polizei, Staatsanwaltschaft, Anwält*innen, Gutachter*innen und Richter*innen) in der Regel nicht über ausreichendes Wissen zur Lage von Menschen mit Behinderungen. Für ein inklusives Rechtssystem fehlt es an individuellen und bedarfsgerechten Unterstützungsangeboten für Menschen mit Behinderungen und an kommunikativer und baulicher Barrierefreiheit im Verfahren.


Die Bundesregierung sollte


  • Aspekte der baulichen und kommunikativen Barrierefreiheit von Anfang an systematisch berücksichtigen;

  • bei dem geplanten Rechtsrahmen für eine verlässliche Finanzierung von Frauenhäusern die Bedarfe von Frauen mit Behinderungen, unter anderem Aspekte der baulichen, konzeptionellen und kommunikativen Barrierefreiheit zwingend vorsehen, beispielsweise, indem verpflichtende regelmäßige Schulungen und Qualifizierungen aller Mitarbeiter*innen für die Belange von Menschen mit Behinderungen vorgegeben werden;

  • die Mittel des Bundesförderprogramms „Gemeinsam gegen Gewalt an Frauen“ des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gezielt auch für den barrierefreien Aus-, Um- und Neubau von Fachberatungsstellen und Frauenhäusern nutzen und den Förderungszeitraum auch über das Jahr 2024 hinaus verlängern;

  • einen Gesetzentwurf zur Reform des Gewaltschutzgesetzes (GewSchG) vorlegen, um seine Anwendbarkeit in der Praxis auf die Situation gewaltbetroffener Menschen mit Behinderungen in Einrichtungen sicherzustellen;

  • die Ergebnisse des Projekts „Suse − sicher und selbstbestimmt − Im Recht.“ des Bundesverbands Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (bff) zu gesetzgeberischen Handlungsnotwendigkeiten für einen wirksamen Zugang zum Recht von Frauen mit Behinderungen nach Gewalterfahrungen aufgreifen und diskutieren und Schritte zu deren Umsetzung vornehmen (dies betrifft unter anderem eine Reform der Richtlinien für das Strafverfahren (RiStBV) und der Strafprozessordnung (StPO)).


Die Landesregierungen sollten


  • verpflichtende Vorschriften zu Aus- und Fortbildungen von Polizei, Staatsanwaltschaft und Richter*innen zu den spezifischen Bedarfen gewaltbetroffener Menschen mit Behinderungen im Strafverfahren machen.


Die Landesregierungen und Kommunen sollten


  • die Fachberatungsstellen bei Gewalt (beispielsweise Frauennotrufe und Frauenhäuser) finanziell für die Zielgruppe der Menschen mit Behinderungen gesondert fördern, um eine intensive Kooperations- und Vernetzungsarbeit mit dem Bereich der Eingliederungshilfe aufnehmen zu können, mit dem Ziel, dem Personenkreis spezifische Unterstützung bei Gewalt anbieten zu können.


Die Leistungserbringer sollten


  • die Sozialraumöffnung der Einrichtungen aktiv befördern und systematisch Netzwerke mit örtlichen Fachberatungsstellen und Schutzeinrichtungen sowie mit kommunalen Behindertenbeauftragten und -beiräten und mit der Polizei aufbauen;

  • die Beschäftigten und Bewohner*innen regelmäßig in barrierefreien Formaten über unabhängige externe Beratungs- und Beschwerdestellen, die niedrigschwellig ansprechbar und in den Einrichtungen persönlich bekannt sind, informieren;

  • eine Vernetzung der Beschäftigten und Bewohner*innen mit Selbstvertretungsstrukturen, wie dem Netzwerk von Frauenbeauftragten und Behindertenbeiräten, fördern.


Polizei und Justiz sollten


  • über Opferrechte durch geeignete barrierefreie Informationsmaterialien in einem bedarfsgerechten Umgang informieren;

  • ein barrierefreies Verfahren sicherstellen und technische, bauliche und Kommunikationsbarrieren im Verfahren beseitigen oder angemessene Vorkehrungen im Einzelfall anbieten.


4. Unabhängige Überwachung des Gewaltschutzes

Zum staatlichen Schutzauftrag gegenüber Menschen mit Behinderungen gehört es, die Umsetzung von gesetzlichen Qualitätsanforderungen zur Gewaltprävention von außen überwachen zu lassen. Dazu verpflichtet auch die UN-Behindertenrechtskonvention, die in Artikel 16 Absatz 3 ausdrücklich vorschreibt, dass alle Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen „wirksam von unabhängigen Behörden überwacht“ werden müssen, um Gewalt und Missbrauch zu verhindern. Denn in einem sensiblen Feld wie dem der Gewalt in Institutionen kann nicht allein den betroffenen Menschen die Initiative überantwortet werden, ihre Rechte geltend zu machen und individuellen Rechtsschutz zu suchen.


Bisher wurde in Deutschland keine Stelle offiziell als unabhängiges, menschenrechtliches Überwachungsorgan nach Artikel 16 Absatz 3 UN-BRK benannt. Von Seiten der Vereinten Nationen wurde mehrmals Besorgnis hierüber verlautbart. Entsprechend äußerten sich der UN- Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen und der UN-Frauenrechtsausschuss in den letzten Staatenprüfungen Deutschlands.


Die von der Bundesregierung im Jahr 2017 in Antwort auf eine Kleine Anfrage aus dem Bundestag angekündigte Klärung, ob auf Bundesebene eine unabhängige Aufsicht nach Artikel 16 Absatz 3 UN-BRK geschaffen und mit welchen Aufgaben diese ausgestattet werden soll, ist bis heute zu keinem Ergebnis gekommen. Auch die im Staatenbericht an den UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen 2019 erklärte laufende „Diskussion zur Schaffung von unabhängigen Aufsichts- und Beschwerdemechanismen“ unter Einbeziehung der „Länder, Kommunen sowie […] Zivilgesellschaft“ hat bisher nicht stattgefunden.


Bis die Diskussion über eine unabhängige Überwachung des Gewaltschutzes nach Artikel 16 Absatz 3 UN-BRK abgeschlossen ist, sollten bestehende Aufsichtsstrukturen im Bereich des Gewaltschutz gestärkt werden. Es gibt bereits eine behördliche Aufsicht über Wohnangebote für Menschen mit Behinderungen. Diese liegt bei den Heimaufsichtsbehörden der Bundesländer. Sie kontrollieren, ob Wohneinrichtungen den gesetzlichen Mindestanforderungen in Betreuung und Pflege nachkommen, die in den Wohn- und Teilhabegesetzen auf Landesebene formuliert sind. Allerdings sind in nur wenigen der Landesgesetze Regelungen zum Schutz der Bewohner*innen vor Gewalt und Missbrauch vorhanden. Dies zeigt die Analyse des Deutschen Instituts für Menschenrechte zur Istanbul- Konvention von 2018. Auch deshalb ist die große Mehrzahl dieser Aufsichtsbehörden noch nicht auf die Aufgabe des Schutzes von Menschen mit Behinderungen vor Gewalt eingestellt. Die Studie des Instituts für empirische Soziologie an der Universität Erlangen- Nürnberg im Auftrag der Bundesregierung kommt zu dem Ergebnis, dass unklar ist, ob die Heimaufsichtsbehörden überhaupt Kenntnisse von Gefährdungen der Bewohner*innen haben. Sie empfiehlt, Bereiche und Ansprechpersonen mit Gewaltspezialisierung in den Aufsichtsbehörden einzuführen und sie mit entsprechenden Ressourcen auszustatten.


Die Bundes- und Länderregierungen sollten


  • die institutionellen Fragen und menschenrechtlichen Qualitätsstandards, die für die Überwachung des Gewaltschutzes für Menschen mit Behinderungen laut Artikel 16 Absatz 3 UN-BRK notwendig sind, in einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe diskutieren; dies sollte in einem partizipativen Verfahren unter Einbindung relevanter Stakeholder und im Austausch mit Selbstvertretungsorganisationen und der Wissenschaft geschehen;

  • eine oder mehrere unabhängige Behörden zur Überwachung des Gewaltschutzes benennen oder einrichten, die mit einem menschenrechtlichen Mandat nach Artikel 16 Absatz 3 UN-BRK und entsprechender gesetzlicher Grundlage sowie ausreichend finanziellen und personellen Mitteln ausgestattet ist bzw. sind; dabei muss die ganze Bandbreite an Dienstleistungen für Menschen mit Behinderungen mitgedacht werden (unter anderem Eingliederungshilfe, Kinder- und Jugendhilfe, Psychiatrie).


Die Landesregierungen sollten

  • die Heimaufsichtsbehörden für das gesetzliche Mandat des Schutzes der Menschenwürde und des Gewaltschutzes fachlich qualifizieren und mit ausreichend personellen Ressourcen ausstatten; dazu gehört die Entwicklung und Etablierung eines menschenrechtsbasierten Verständnisses der Behörden, Personalfortbildungen zum Gewaltbegriff, die Erarbeitung landeseinheitlicher Prüfkonzepte, partizipative Prüfmethoden sowie die statistische Dokumentation von Gewaltvorfällen;

  • die Heimaufsichtsbehörden innerhalb der Landesverwaltung organisieren, um Interessenskonflikte auf kommunaler Ebene zwischen Aufsichtsbehörde und örtlichem Träger der Sozialhilfe als Kostenträger zu vermeiden;

  • eine Reform der Wohn- und Teilhabegesetze (Heimrecht) vorbereiten und dort Vorschriften zum Gewaltschutz ergänzen, wie die Pflicht zur Erstellung von Gewaltschutzkonzepten, die Vermeidung von freiheitseinschränkenden Maßnahmen (FEM), die Beteiligung der Bewohner*innen sowie Vorgaben zur Sozialraumöffnung und die Einführung von Frauenbeauftragten;

  • unabhängige, interdisziplinär besetzte Besuchskommissionen einführen, die Werkstätten und Wohneinrichtungen regelmäßig (mindestens einmal jährlich) besuchen. In diesen sollten auch Menschen mit Behinderungen vertreten sein („peer-Verfahren“). Das Ziel der Besuchskommissionen sollte darin liegen zu überprüfen, ob selbstbestimmte Teilhabe sichergestellt ist und die Menschen wirksam vor Gewalt geschützt sind. Die Besuchskommissionen sollten sich sowohl mit den Beschäftigten und Bewohner*innen als auch mit Fachkräften austauschen und Ergebnisberichte mit Empfehlungen erstellen. Sie sollten weisungsungebunden arbeiten und durch eine Geschäftsstelle auf ministerialer Ebene unterstützt werden.

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