Artikel 25: Gesundheit
Inklusive Gesundheitsversorgung
Deutschland ist noch weit von einem flächendeckenden inklusiven Gesundheitssystem entfernt. Derzeit geben nur 10 % der ärztlichen Praxen an, für mobilitätseingeschränkte Personen barrierefrei zugänglich zu sein und über barrierefreie Sanitäranlagen zu verfügen; nur 7 % verfügen über Orientierungshilfen für Menschen mit Sehbeeinträchtigungen. Besonders besorgniserregend ist die Situation im ländlichen Bereich: Menschen mit Behinderungen müssen lange Strecken zu einer barrierefreien (fach-)ärztlichen Praxis zurücklegen und können weder Ärzt*innen noch den Praxis-Standort frei wählen. Eine gesetzliche Verpflichtung zur Barrierefreiheit im privaten Sektor, von der auch ärztliche Praxen betroffen wären, steht weiterhin aus.
Auch fehlt es an besonderen Gesundheitsdienstleistungen für Menschen mit Behinderungen: Obwohl die Bundesregierung angekündigt hat, Medizinische Zentren für Erwachsene mit Behinderungen (MZEB) auszubauen, ist Deutschland von einer Bedarfsdeckung weit entfernt. Ebenso fehlen spezifische Versorgungsangebote für Frauen mit Behinderungen wie etwa gynäkologische Spezialambulanzen.
Studien verweisen auf spezifische Diskriminierungsrisiken von Menschen mit intellektuellen und psychosozialen Beeinträchtigungen sowie von gehörlosen Menschen bei der Inanspruchnahme von Gesundheitsdienstleistungen, insbesondere durch Kommunikationsbarrieren und mangelndes Bewusstsein der Fachkräfte. In der Aus- und Fortbildung von medizinischen Fachkräften werden behinderungsspezifische Kenntnisse, das menschenrechtliche Modell von Behinderung und die Anforderungen an die Behandlung (etwa besondere Kommunikationsbedarfe) nicht ausreichend vermittelt. Sogar das Bundesverfassungsgericht hat konstatiert, dass Menschen mit Behinderungen aufgrund eines mangelnden Bewusstseins der Fachkräfte derzeit nicht wirksam gegen Diskriminierung im Gesundheitssystem geschützt sind.
Exemplarisch zeigt dies das 2020 in Kraft getretene Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetz (IPReG): Hiernach entscheidet nicht die Person, sondern die Krankenkasse über die Wahl des Leistungsortes für außerklinische Intensivpflege. Lediglich „berechtigten Wünschen der Versicherten“ ist zu entsprechen. Menschen mit Behinderungen und Bedarf an Intensivpflege können bei einer negativen Bewertung der häuslichen Versorgung durch den medizinischen Dienst der Krankenkassen in eine Pflegeeinrichtung verlegt werden. Dieses Risiko wird durch die untergesetzlichen Regelungen noch erhöht. Die Ansprüche auf Versorgung mit außerklinischer Intensivpflege sind in häuslichen Settings aufgrund mangelnder ambulanter Versorgungsstrukturen und eines akuten Fachkräftemangels kaum umsetzbar. Gleiches gilt für die gesetzlich vorgesehene Potenzialerhebung zur Reduzierung künstlicher Beatmungen.
Die Bundesregierung hat in ihrem Koalitionsvertrag von 2021 angekündigt, einen Aktionsplan für ein „diverses, inklusives und barrierefreies Gesundheitswesen“ zu erarbeiten.94 Das zuständige Ministerium ist jedoch trotz nachdrücklicher Forderungen von verschiedenen Seiten bisher nicht tätig geworden.
In Deutschland besteht keine flächendeckende gleichberechtigte Grundversorgung in einem inklusiven Gesundheitssystem, wie es die Konvention erfordert. Den besonderen Bedarfen von Menschen mit Behinderungen wird nicht systematisch Rechnung getragen. Es fehlt ein Disability Mainstreaming im Gesundheitswesen, was sich besonders während der Corona-Pandemie gezeigt hat.
Die Monitoring-Stelle regt an, dem Vertragsstaat zu empfehlen,
einen wohnortnahen, barrierefreien Zugang zu medizinischen Einrichtungen und gesundheitlichen Dienstleistungen zu gewährleisten und verbindliche Mindeststandards für die Barrierefreiheit von Arztpraxen sowohl im Bestand als auch bei der Neuzulassung festzulegen;
MZEBs und gynäkologische Spezialambulanzen flächendeckend auszubauen und Neugründungen und Vergütungsverhandlungen zu vereinfachen;
die Aus- und Weiterbildung von Fachkräften im Gesundheitssektor zu behinderungsspezifischen Fachkenntnissen sowie zum menschenrechtsbasierten Modell von Behinderung gesetzlich zu verpflichten und ins besondere mehr regionale universitäre Lehr- und Forschungsschwerpunkte aufzubauen;
das IPReG und untergesetzliche Regelungen menschenrechtskonform auszulegen und die Wahrung des Selbstbestimmungsrechts zu überprüfen, um zu gewährleisten, dass eine Intensivpflegeversorgung auch in der häuslichen Umgebung sichergestellt ist.
Artikel 27: Arbeit und Beschäftigung
Zugang zu beruflicher Bildung und zum allgemeinen Arbeitsmarkt
Trotz leichter Verbesserungen bei den Arbeitsmarktzahlen sind Menschen mit Behinderungen beim Zugang zum allgemeinen Arbeitsmarkt weiterhin strukturell benachteiligt: Sie haben eine deutlich geringere Erwerbsbeteiligung, können seltener ihren Lebensunterhalt aus dem eigenen Erwerbseinkommen bestreiten und sind fast doppelt so häufig und im Schnitt auch deutlich länger arbeitslos als Menschen ohne Behinderungen.
Eine wesentliche Ursache liegt im Bereich der beruflichen Bildung. Junge Menschen mit Behinderungen werden häufig immer noch ohne echte Wahlmöglichkeiten in bestimmte Berufe und Maßnahmen gedrängt, die angeblich für sie besonders geeignet seien. Obwohl laut Gesetz Menschen mit Behinderungen vorrangig in allgemein anerkannten Berufen auszubilden sind, bleiben Sonderformen der Berufsausbildung, die nicht zu allgemein anerkannten Berufsabschlüssen führen, nach wie vor Standard: 80–90 % aller Schulabgänger*innen mit Behinderungen durchlaufen nach Ende der Schulzeit zunächst eine mindestens einjährige Maßnahme im sogenannten Übergangssystem. Danach beginnt rund ein Drittel von ihnen eine im Anspruch reduzierte Ausbildung in besonderen Berufen für Menschen mit Behinderungen, während über die Hälfte in den Berufsbildungsbereich einer Werkstatt für behinderte Menschen wechselt beziehungsweise gar keinen Beruf lernt. Im Ergebnis erreichen junge Menschen mit Behinderungen im Schnitt deutlich niedrigere und seltener ihrem Schulabschluss entsprechende Berufsabschlüsse als ihre nichtbehinderten Altersgefährten. Als Barrieren wirken hier unter anderem eine von Stereotypen geprägte Berufsorientierung und -beratung, unübersichtliche Beratungs- und Unterstützungsangebote für Arbeitgeber*innen sowie eine ungenügende Flexibilität im Regelausbildungssystem.
Ein weiterer Faktor, der jungen Menschen mit Behinderungen den Zugang zu einer regulären Berufsausbildung erschwert, ist die oft fehlende Barrierefreiheit von Ausbildungs- und Arbeitsstätten. Die Rechtslage hat sich hier nicht verbessert. Es fehlt weiterhin an verbindlichen Verpflichtungen für Arbeitgeber*innen, neue Arbeitsstätten barrierefrei zu bauen. Die Verpflichtung für öffentliche Institutionen, Barrierefreiheit herzustellen, bleibt bei Bestandsgebäuden zudem weiter auf diejenigen Gebäudeteile beschränkt, die dem Publikumsverkehr dienen. Gebäudeteile, die nur von Angestellten genutzt werden und im Hinblick auf Artikel 27 UN-BRK ebenso wichtig sind, bleiben davon ausgenommen.
Im Hinblick auf Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) wurden unter anderem mit dem Budget für Arbeit, dem Budget für Ausbildung und mit dauerhaften Lohnkostenzuschüssen neue Instrumente eingeführt, die Potenzial für eine Verbesserung der Übergänge in den allgemeinen Arbeitsmarkt bieten. Leider werden diese Instrumente bisher kaum genutzt. Die Zahl der Werkstattbeschäftigten stagniert auf hohem Niveau und lag 2021 bei insgesamt 312.000 Personen. Ihre Entlohnung liegt erheblich unterhalb des gesetzlichen Mindestlohns, der auf die WfbM nicht angewandt wird, weil eine Werkstattbeschäftigung als Rehabilitation und nicht als Arbeitsverhältnis gewertet wird. Die Übergangsquoten aus den Werkstätten sind trotz der neuen Instrumente verschwindend gering und liegen seit Jahren unter 1 %.
Die Strukturen in der beruflichen Bildung sind nicht inklusiv ausgestaltet. Um mehr jungen Menschen mit Behinderungen eine reguläre Berufsbildung zu ermöglichen, bedarf es einer grundlegenden Strukturreform am Übergang von Schule zu Beruf.
Die gesetzlichen Verpflichtungen für Arbeitgeber*innen, Arbeitsstätten barrierefrei zu gestalten, sind unzureichend. Der Vertragsstaat wird seinen Verpflichtungen zur Ergreifung wirksamer Maßnahmen zugunsten zugänglicher Arbeitsstätten nicht gerecht.
Alle Bemühungen, den Übergang in den allgemeinen Arbeitsmarkt für Werkstattbeschäftigte zu verbessern, fruchten bisher kaum. Bedenklich ist die unveränderte, auch in den letzten Jahren wiederholt geäußerte grundsätzliche Positionierung der Bundesregierung, wonach WfbM Teil eines inklusiven Arbeitsmarktes im Sinne von Artikel 27 UN-BRK seien.
Die Monitoring-Stelle regt an, dem Vertragsstaat zu empfehlen,
das System der beruflichen Bildung zu einem inklusiven System umzugestalten und dabei unter anderem niedrigschwellig individuelle Unterstützung zu gewähren, diskriminierungsfreie Beratung und gleiche Wahlmöglichkeit auf Ausbildung in einem anerkannten Ausbildungsberuf sicherzustellen sowie segregierende Formen beruflicher Ausbildung schrittweise abzubauen;
beim Neubau von Arbeitsstätten die Barrierefreiheit durchgängig verpflichtend vorzuschreiben und die Einhaltung effektiv sicherzustellen sowie wirkungsvolle Anreize zum barrierefreien Umbau bestehender Arbeitsstätten auch dort zu setzen, wo noch keine Menschen mit Behinderungen beschäftigt sind;
seine Bemühungen zur Abkehr von segregierenden Formen der Beschäftigung wie der Werkstätten deutlich zu verstärken und effektive Maßnahmen zu ergreifen, um möglichst allen Menschen mit Behinderungen eine diskriminierungsfreie Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu ermöglichen.
Artikel 28: Angemessener Lebensstandard und Sozialer Schutz
Armutsrisiko und Armutsberichterstattung
Die Bundesregierung legt einmal pro Legislaturperiode einen Armuts- und Reichtumsbericht vor. Der vorletzte 5. Bericht von 2017106 enthält zwar ein eigenes Unterkapitel zu Behinderung und Menschen mit Behinderungen werden auch an anderen Stellen des Berichts thematisiert. Von einer systematischen Auseinandersetzung mit dem Thema Armut und Behinderung kann allerdings keine Rede sein. Auch im 2021 veröffentlichten 6. Armuts- und Reichtumsbericht wird die Situation von Menschen mit Behinderungen nicht im Sinne eines Disability Mainstreaming durchgehend analysiert.
Das Armutsrisiko von Menschen mit Behinderungen ist nach wie vor hoch.110 Es lag 2012 bei 16,7 % und 2018 bei 19,6 %, während es bei Menschen ohne Behinderungen 11,4 % beziehungsweise 13,6 % betrug. Die Regelungen des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) tragen nicht dazu bei, dass Menschen mit Behinderungen Rücklagen für das Alter bilden und damit Altersarmut reduzieren können: Zwar gibt es mittlerweile eine großzügigere Vermögensanrechnung, aber die Einkommensanrechnung in der Eingliederungshilfe ist nach wie vor so streng, dass es trotz Arbeit kaum möglich ist, Vermögen – und damit Rücklagen – aufzubauen, wenn dauerhaft hoher Unterstützungsbedarf besteht.
Das signifikant höhere Armutsrisiko von Menschen mit Behinderungen widerspricht Artikel 28. Das fehlende Disability Mainstreaming bei der Armutsberichterstattung zeigt, dass sich die Bundesregierung zu wenig bewusst ist über die intersektionalen Risiken, denen Menschen mit Behinderungen in Armut ausgesetzt sind.
Die durch das BTHG reformierte Eingliederungshilfe verbessert zwar die Umsetzung des Rechts auf einen angemessenen Lebensstandard. Sie bleibt aber hinter den Anforderungen zurück, was zum Beispiel den gleichberechtigten Zugang zu materiellerer Sicherung im Alter angeht.
Die Monitoring-Stelle regt an, dem Vertragsstaat zu empfehlen,
das Thema Behinderung standardmäßig und systematisch in den Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung aufzunehmen; geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um das erhöhte Armutsrisiko von Menschen mit Behinderungen zu bekämpfen und das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard zu gewährleisten;
die Einkommens- und Vermögensanrechnung bei Sozialleistungen so umzugestalten, dass auch Menschen mit Behinderungen, die dauerhaft persönliche Assistenz oder andere Formen der Unterstützung benötigen, genügend Rücklagen fürs Alter ansparen können.
Artikel 29: Teilhabe am politischen und öffentlichen Leben
Inklusives Wahlrecht sowie haupt- und ehrenamtliche politische Tätigkeit
Infolge mehrerer verfassungsgerichtlicher Entscheidungen wurden Wahlrechtsausschlüsse bundesweit schrittweise bis Oktober 2020 aufgehoben. Seither sind alle Menschen mit Behinderungen bei allgemeinen Wahlen und Abstimmungen stimmberechtigt.
Im Zuge der Wahlrechtsreformen haben Bund und Länder auch die Möglichkeiten, verbessert assistiert zu wählen, einschließlich der Stimmabgabe in der Wahlkabine. Wahlinformationen und -unterlagen stehen zunehmend auch in Leichter Sprache zur Verfügung. In Schleswig-Holstein wurde die Landeswahlordnung 2016 sogar so geändert, dass die offiziellen Wahlunterlagen bei der Landtagswahl 2017 standardmäßig an alle Wahlberechtigten in Leichter Sprache verschickt wurden. Dieser konsequent inklusive Ansatz wurde allerdings ein Jahr später wieder aufgehoben. Zur Barrierefreiheit von Wahllokalen deuten Daten aus einzelnen Bundesländern weiter auf gravierende Mängel hin.
Belastbare Daten zu Menschen mit Behinderungen in öffentlichen und politischen Entscheidungsämtern gibt es nicht. Eine Umfrage zählte 2017 23 Bundestagsabgeordnete mit Behinderungen (3,3 %) und stellte gleichzeitig fest, dass 43 Personen zur gleichen anteiligen Repräsentation wie in der Gesamtbevölkerung fehlten.
Die Betätigung von Menschen mit Behinderungen in politischen Parteien und Ämtern wird dadurch erschwert, dass Assistenz und Gebärdensprachdolmetschung nicht sichergestellt sind, da Leistungen für ehrenamtliches Engagement nur in engen Grenzen gewährt werden. Das Gesetz sieht diese Leistungen als nachrangig zu unentgeltlich privat erbrachter Unterstützung an; die Genehmigungspraxis ist zudem sehr restriktiv. Beides erschwert es Menschen mit Behinderungen, sich im politischen Alltag zu engagieren und sich das nötige Erfahrungswissen anzueignen, um Entscheidungspositionen erreichen zu können.
Die Vorschriften zur Wahlberechtigung sind inzwischen konventionskonform; allerdings sind Wahlverfahren, -einrichtungen und -materialien nicht für alle Menschen mit Behinderungen zugänglich. Insbesondere ist die Anzahl barrierefreier Wahllokale unzureichend. Die vom Staat geschilderten Ansätze, um die Repräsentation von Menschen mit Behinderungen in politischen Ämtern zu erhöhen, sind wenig erfolgsversprechend, solange die Regelungen zur Assistenz im Ehrenamt nicht nachgebessert werden.
Die Monitoring-Stelle regt an, dem Vertragsstaat zu empfehlen,
sicherzustellen, dass die Abläufe von Wahlen und Abstimmungen in allen Schritten, von der Ankündigung über die Stimmabgabe bis zur Bekanntgabe der Ergebnisse, barrierefrei gestaltet sind, einschließlich flächendeckend barrierefreier Wahllokale;
die gesetzlichen Regelungen zu Assistenz und Gebärdensprachdolmetschung im Ehrenamt so zu überarbeiten, dass sichergestellt ist, dass Menschen mit Behinderungen die Assistenzleistungen erhalten, die sie zur Ausübung politischen Engagements brauchen;
die Datenlage zum politischen Engagement und der Repräsentation von Menschen mit Behinderungen in Entscheidungspositionen zu verbessern.
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