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Monitoring-Stelle UN-BRK - Parallelbericht (5)

Artikel 19: Selbstbestimmt Leben und Inklusion in die Gemeinschaft

Deinstitutionalisierung und personenzentrierte Assistenz

In Deutschland gibt es ein stark ausgebautes Angebot stationärer Wohnformen, das seine systemische Bedeutung kaum verloren hat. Dagegen fehlen ambulante und personenzentrierte Unterstützungsangebote, insbesondere für Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen und hohem Unterstützungsbedarf. Ein zielgerichteter Prozess zur Deinstitutionalisierung findet nicht statt.

Noch immer lebt fast die Hälfte aller Menschen mit Behinderungen, die Leistungen zum Wohnen beziehen, in besonderen Wohnformen. Das gilt vor allem für Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen, die 64,4 % der Bewohner*innen ausmachen. Die Anzahl entsprechender Wohnplätze ist seit 2012 durchschnittlich sogar leicht gestiegen (0,1 %). Für die besonderen Wohn­ formen werden deutlich höhere staatliche Ressourcen aufgewandt als für die Assistenz in eigener Häuslichkeit oder in Pflegefamilien (2021 8,3 Millionen gegenüber 3 Millionen Euro). Das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben wird in besonderen Wohnformen häufig verletzt: Bewohner*innen berichten über fehlende Privatsphäre, mangelnde Mitbestimmung, fehlende Wahlmöglichkeiten bezüglich der Unterstützungspersonen und einen fehlenden Zugang zur Gemeinschaft. Diese Wohnformen entsprechen damit weiterhin den Merkmalen institutioneller Wohn­rrsettings.


Das Leistungsrecht für Menschen mit Behinderungen im Bereich Wohnen wurde mit Inkrafttreten des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) grundlegend verändert. Die zentralen Ziele der Reform bestanden in einer stärkeren Personenzentrierung. Hierfür wurden ein Gesamtplanverfahren für die Ermittlung individueller Bedarfe eingeführt und personenzentrierte Assistenzleistungen in den Leistungskatalog aufgenommen. Die Einkommens- und Vermögensgrenze wurde deutlich erhöht. Trotzdem müssen Menschen mit Behinderungen weiterhin mit ihren eigenen finanziellen Mitteln dafür aufkommen, wenn sie im Bereich Wohnen behinderungsbezogene Leistungen beanspruchen möchten. Das Wunsch- und Wahlrecht hinsichtlich Lebensort und Unterstützungsarrangement bleibt eingeschränkt, da ein Mehrkostenvorbehalt besteht und Leistungen gepoolt werden dürfen. Bewohner*innen besonderer Wohnformen haben außerdem weiterhin nur einen eingeschränkten Zugang zu Pflegeleistungen.


Zudem zeigt das Gesetz beträchtliche Umsetzungsdefizite auf. So wird das neue Teilhabe­verfahren in vielen Regionen nur zögerlich ange­wendet. Die Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung (EUTB) wird zwar regelfinanziert, aber nicht flächendeckend umgesetzt und spezialisierte Beratungsangebote etwa für gehörlose Menschen wurden abgeschafft. Die vorläufigen Evaluationsberichte im Rahmen der Umsetzungsbegleitung des Gesetzes verweisen auf Pr obleme bei der Verwirklichung des Wunsch- und Wahlrechts und der Beteiligung am Gesamtplanverfahren.


In Deutschland fehlt es an koordinierten und weitreichenden Maßnahmen zur Verwirklichung der Deinstitutionalisierung. Die Umsetzung des BTHG ist drei Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes ins Stocken geraten. Es besteht die Gefahr, dass seine Potenziale für die Stärkung des Rechts auf ein selbstbestimmtes Leben und Inklusion in die Gemeinschaft nicht ausgeschöpft werden.


Die Monitoring-Stelle regt an, dem Vertragsstaat zu empfehlen,

  • eine umfassende Strategie mit konkreten Zielvorgaben für die Deinstitutionalisierung zu entwickeln und dabei insbesondere Menschen mit intellektuellen und komplexen Beeinträchtigungen in den Blick zu nehmen; dabei sollen Menschen mit Behinderungen und ihre Organisationen adäquat beteiligt werden;

  • die Angebotslandschaft personenzentrierter Unterstützung auszubauen, einen inklusiven Sozialraum zu gestalten und einen inklusiven Wohnungsmarkt zu fördern;

  • die gesetzlichen Regelungen nachzuschärfen, insbesondere bezüglich der Orientierung der Leistungen am Wunsch- und Wahlrecht, unter anderem durch

    • die Aufhebung des Mehrkostenvorbehalts

    • die Aufhebung der Einkommens- und Vermögensanrechnung,

    • die Sicherstellung des selbstbestimmten Zugangs zu Unterstützungsdiensten jenseits von Zwängen eines „Poolens“ von Leistungen,

    • die Sicherstellung eines uneingeschränkten Zugangs zu Pflegeleistungen nach dem SGB XI, unabhängig von der Wohnform.



Artikel 20: Persönliche Mobilität

Maßnahmen für eine barrierefreie Mobilität

Der barrierefreie Ausbau der Verkehrsinfrastruktur schreitet fort, allerdings schleppend. Im Bahnverkehr waren nach Angaben der Deutschen Bahn AG Ende 2022 mehr als 80 % der Bahnsteige stufenfrei erreichbar, über die Hälfte mit taktilen Leitsystemen ausgestattet und mehr als neun von zehn Bahnsteigen für hörbeeinträchtigte Menschen barrierefrei. Im Fernverkehr sollen 42,5 % der Züge weitgehend barrierefrei sein, wobei hier die Bewertung der Barrierefreiheit schwierig ist: Züge im Fernverkehr sind in der Regel nicht bodengleich, sondern nur über einen Hublift zu erreichen. Auch wenn dieser fest im Fahrzeug installiert ist, wird die selbstbestimmte Mobilität ein­geschränkt durch die Notwendigkeit einer Anmeldung, mögliche technische Defekte, fehlende Schulungen der Bahnmitarbeitenden oder nicht ausreichend vorhandenes Personal.


Das gesetzlich gesteckte Ziel eines bis 2022 barrierefreien öffentlichen Nahverkehrs wurde in allen Kommunen verfehlt. Hier bestehen zu umfangreiche Ausnahmeregelungen. Insbesondere im ländlichen Bereich sind beispielsweise Niederflurbusse weiter die Ausnahme; ihr Anteil erhöhte sich auf rund 26 %. Ein flächendeckendes Problem sind oftmals fehlende angemessene Vorkehrungen, sowohl im Nah- als auch Fernverkehr.


Zum Ausbaustand der digitalen Barrierefreiheit des öffentlichen Nahverkehrs, etwa in Form barrierefreier Webseiten und Informationen zu Betriebsstörungen, liegen aufgrund der kleinteiligen Anbieterlandschaft keine Daten vor. Betroffene berichten allerdings von großem Nachholbedarf und dass insbesondere Informationen in Leichter Sprache bisher die Ausnahme darstellen.


Der Staat beteiligt sich bisher kaum an der Gestaltung einer barrierefreien Mobilitätswende. So fehlen gesetzliche Regelungen für barrierefreie Ladesäulen von E-Autos. Bei der Umgestaltung des öffentlichen Raums in Städten bestehen ebenfalls noch gravierende Mängel bei der Barrierefreiheit.


Die bisherigen Anstrengungen reichen nicht aus, um barrierefreies Reisen sicherzustellen. Für Menschen mit Behinderungen bleibt gleichberechtigte Mobilität weiterhin eine Utopie. Der schleppende Ausbau der barrierefreien Infrastruktur und fehlende angemessene Vorkehrungen haben zur Folge, dass Reisepläne nicht flexibel geändert werden können und Menschen mit Behinderungen längere Reisezeiten in Kauf nehmen müssen oder ihr Ziel nicht erreichen. Artikel 20 UN-BRK ist daher bislang nur ansatzweise umgesetzt.


Die Monitoring-Stelle regt an, dem Vertragsstaat zu empfehlen,

  • den Begriff der vollständigen Barrierefreiheit in den für die Verkehrsinfrastruktur relevanten Regelungen UN-BRK-konform zu definieren, Ausnahmetatbestände abzuschaffen, aktive Überwachungsmechanismen zu installieren und die Nichteinhaltung von Vorgaben wirkungsvoll zu sanktionieren;

  • die ÖPNV-Gesetze der Länder so weiterzuentwickeln, dass sie den zügigen Ausbau der Infrastruktur sicherstellen und alle Anbieter zur Gewährung angemessener Vorkehrungen verpflichten;

  • Barrierefreiheit bei den aktuellen Transformationen in der Mobilität und im öffentlichen Raum proaktiv sicherzustellen. Dies umfasst insbesondere, Gesetzeslücken bei der barrierefreien Ausgestaltung der E-Mobilität zu schließen und partizipative Prozesse zu den Anforderungen an barrierefreie Städte zu ermöglichen.



Artikel 21: Zugänglichkeit von öffentlichen Informationen

Zugänglichkeit von Informationsangeboten

Öffentlich-rechtliche und private Medienanbieter haben ihre barrierefreien Inhalte in den letzten Jahren deutlich ausgebaut: So sind Video-on-Demand-Angebote und Livestreams vermehrt mit Audiodeskription, Untertitelung oder in Deutscher Gebär­densprache verfügbar. Der 2022 in Kraft getretene Medienänderungsstaatsvertrag hat den Begriff „barrierefreies Angebot“ erstmals gesetzlich verankert und verpflichtet die Anbieter zum stetigen Ausbau „im Rahmen der technischen und finanziellen Möglichkeiten“. Diese Zusatzangebote werden jedoch – mit wenigen Ausnahmen – nicht im regulären linearen Programm gezeigt, sondern lassen sich nur über spezielle Anwendungen auswählen, die bestimmte Geräte und eine Internetverbindung erfordern, und sind dadurch nicht für alle Menschen mit Behinderungen zugänglich.


Die Ausbreitung von COVID-19 legte deutliche Defizite beim gleichberechtigten Zugang zu öffentlichen Informationen offen. So wurden etwa Regierungspressekonferenzen zum Infektionsgeschehen zunächst ohne Gebärdensprachdolmetschung im Fernsehen übertragen, was Menschen mit Hörbehinderungen von lebenswichtigen Informationen ausschloss. Erst nach vehementer Kritik von Betroffenenorganisationen wurde DGS-Simultan-übersetzung eingerichtet. Die durch die Pandemie beschleunigte Digitalisierung vieler Lebensbereiche hat auch die Notwendigkeit von barrierefrei gestalteten Webseiten und anderen digitalen Angeboten verdeutlicht. Die Ende 2021 erstmalig vorgelegten Ergebnisse der nach EU-Richtlinie 2016/2102 eingerichteten Überwachungsstellen belegen hier erhebliche Mängel auf Bundes- und Landesebene sowie in den Kommunen.

Trotz erkennbarer Verbesserungen bleibt Deutschland weiterhin deutlich hinter den Anforderungen von Artikel 21 zurück. Die im Medienänderungsstaatsvertrag enthaltene Verpflichtung zum Ausbau barrierefreier Angebote ist grundsätzlich zu begrüßen, lässt aber konkrete Ziele vermissen. Zudem bleibt das linear ausgestrahlte Programm, insbesondere Liveübertragungen, davon weitgehend unberührt. Die gesetzlichen Anforderungen an barrierefreie Internet­angebote werden sowohl bei der Gestaltung als auch in der redaktionellen Umsetzung immer noch häufig ignoriert. Dies verwehrt vielen Menschen den Zugang zu wichtigen Inhalten, ohne dass den Verantwortlichen Sanktionen drohen.


Die Monitoring-Stelle regt an, dem Vertragsstaat zu empfehlen,

  • verbindliche Vorschriften zu erlassen, die barrierefreie Inhalte des tagesaktuellen – auch linearen – Fernsehprogramms gewährleisten, und zwar sowohl für öffentlich-rechtliche als auch für private Anbieter;

  • Menschen mit Behinderungen stärker an Programmgestaltung und Medieninhalten zu beteiligen;

  • Beratungsangebote zu digitaler Barrierefreiheit und ihrer Umsetzung auszubauen, verstärkt bundesweit über Beschwerdemöglichkeiten und Durchsetzungsverfahren zu informieren und bei anhaltenden Defiziten Verantwortliche zu sanktionieren.



Artikel 24: Bildung

Inklusive Schulbildung

Deutschland ist geprägt von einem ausdifferenzierten System von Förderschulen für Kinder mit Behinderungen. Eine Transformation hin zu einem inklusiven Schulsystem findet nicht statt. Die Datenlage zeigt, dass aktuell im Bundesdurchschnitt noch immer mehr als die Hälfte der Schüler*innen mit sonderpädagogischer Förderung an einer Förderschule unterrichtet werden. Der Anteil von Kindern in Förderschulen steigt in einigen Bundesländern sogar. Förderschulen werden darüber hinaus als vermeintlicher Teil eines inklusiven Systems behandelt und mit dem Elternwahlrecht auf diese Schulform gerechtfertigt. Deutschland hat darauf zuletzt in einer bisher noch nicht veröffentlichten Stellungnahme im Individualbeschwerdeverfahren erneut verwiesen und die Auffassung wiederholt, dass die UN-BRK nicht zu einer Abschaffung von Förderschulen verpflichte. Damit zusammenhängend gibt es außer in den Stadtstaaten Bremen und Hamburg keinen Rechtsanspruch auf eine inklusive Beschulung und angemessene Vorkehrungen. Stattdessen festgeschrieben sind Ressourcenvorbehalte, das erwähnte Elternwahlrecht oder die Einrichtung von Schwerpunktschulen inklusiver Beschulung, die nur an einzelnen Standorten angeboten werden und eine Sonderstruktur im Regelschulsystem darstellen. Mangels Daten ist auch nicht klar, in welchem Umfang Schulen in Deutschland barrierefrei sind.


Die überwiegende Mehrheit (72,7 %) der Förderschüler*innen verlässt die Schule ohne anerkannten Abschluss. Dies ist der Beginn einer Exklu­sions­ kette: Die Betroffenen wechseln in der Regel in gesonderte und theoriereduzierte Formen der Berufsausbildung mit verminderten Aussichten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Viele von ihnen arbeiten später in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen.

Nach wie vor werden in Deutschland Sonderpädagog*innen für Förderschulen ausgebildet, statt gezielt Lehrkräfte für Inklusion an Regelschulen auszubilden. Auch allgemeinbildende Lehrkräfte werden noch nicht verpflichtend inklusionspädagogisch aus- und fort­ gebildet. Aktuelle Studien belegen zudem eine ablehnende Haltung vieler Regel- und Förderschullehrkräfte, Schüler*innen mit intellektuellen oder komplexen Behinderungen zu unterrichten.

In Deutschland herrscht in der Politik und auch in weiten Teilen der Gesellschaft ein verfehltes Inklusionsverständnis. So wird die Mehrheit der Kinder mit Behinderungen weiterhin nicht inklusiv beschult und wächst ohne schulischen Kontakt zu nichtbehinderten Kindern auf. Das Ziel einer inklusiven Gesellschaft ist so nicht zu erfüllen. Die Landesregierungen müssen ihre menschenrechtliche Umsetzungspflicht gezielter und engagierter wahrnehmen. Der Bund kann sich seiner Gesamtverantwortung nicht durch den Verweis auf die Länderzuständigkeit im Bildungsbereich entziehen. Bund und Länder sind gemeinsam in der Pflicht, das Bildungssystem inklusiv umzugestalten.


Die Monitoring-Stelle regt an, dem Vertragsstaat zu empfehlen,

  • seine Anstrengungen in Bezug auf inklusive schulische Bildung zu verstärken und die schulische Segregation mithilfe einer Gesamtstrategie und unter Ausbau der Kooperation zwischen Bund und Ländern zu überwinden;

  • den vorbehaltlosen Rechtsanspruch auf inklusive Beschulung in allen Bundesländern zu verankern sowie konkrete, zeitlich terminierte und mit finanziellen Mitteln unterlegte Maßnahmen unter anderem zu folgenden Zielen vorzunehmen:

    • Umschichtung von personellen und finanziellen Ressourcen von der Förderschule zu inklusiven Schulen,

    • Sicherstellung von verpflichtenden Aus- und Fortbildungsangeboten für Lehr- und Fachpersonal zu inklusiver Beschulung,

    • Entwicklung von Informationskampagnen zum menschenrechtlichen Verständnis und den Vorteilen inklusiver Bildung,

    • Erhebung von Daten zu Barrierefreiheit von Schulen, um Barrieren gezielt abzubauen.

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