Formen und Orte der schulischen Förderung
Auf der Grundlage der Erhebung des individuellen Förderbedarfs entscheidet die Schulaufsicht unter Einbeziehung der Eltern und nach Benehmen mit der Schule über den Bildungsgang und den Förderort. Bei Volljährigkeit sind die Schülerin oder der Schüler und deren Betreuer an den Entscheidungen zu beteiligen. Die Suche nach dem geeigneten Ort der schulischen Förderung orientiert sich vorrangig am Leistungsvermögen. Gegebenenfalls sind unter Berücksichtigung der pädagogischen, finanziellen, personellen und organisatorischen Möglichkeiten und Grenzen ge- eignete Rahmenbedingungen zu schaffen, die dem individuellen und spezifischen Förderbedarf von Schülerinnen und Schülern mit autistischen Verhaltensweisen entsprechen.
Außerschulische Kostenträger sind frühzeitig in die Klärung der Schulortfrage einzubeziehen.
Schülerinnen und Schüler mit autistischen Verhaltensweisen besuchen je nach den Gegebenheiten des Einzelfalls allgemeine Schulen oder Sonderschulen. Kooperative Arbeitsformen zwischen den Schularten bilden eine notwendige und differenzierende Ergänzung vorhandener schulischer Angebote.
Die schulische Förderung von Kindern und Jugendlichen mit autistischen Verhaltensweisen erfolgt unabhängig vom Ort der Förderung sowohl in gemeinschaftsbezogenen wie auch in differenzierenden Unterrichtsformen.
In Einzelfällen kann zeitlich befristeter Einzelunterricht erforderlich werden.
Eine eventuell erforderliche Unterstützung in Form einer Schulbegleitung ist im Zusammenwirken mit den zuständigen Kostenträgern zu klären. Aufgabe und Umfang der Schulbegleitung ergeben sich aus dem individuellen Hilfebedarf. Die Gewährung ist nicht mit dem Besuch einer bestimmten Schule oder Schulart verbunden.
Methodisch- didaktische Aspekte der Unterrichtsgestaltung
Ergänzend zu den allgemeinen Zielen von Unterricht können sich für Schülerinnen und Schüler mit autistischen Verhaltensweisen als vorrangige Ziele ergeben:
Wecken von Interesse und Neugierde an sachorientierter Auseinandersetzung
Aufbau von spezifischen Kompetenzen wie z. B. Alltagsbewältigung, sich gesellschaftlichen Normvorstellungen anzunähern
Wahrnehmen von Realität: den Schülerinnen und Schülern ist es manchmal nicht möglich, Situationen in ihrer Komplexität wahrzunehmen. Sie orientieren sich mög- licherweise an ihren Vorlieben, schränken sich damit in ihrer Wahrnehmung selbst ein und haben ein anderes Bild von "hier und jetzt".
Förderung von kommunikativem Verhalten und unterschiedlichen Ausdrucksformen, wobei nonverbale Kommunikationsmethoden eine wichtige Rolle spielen.
Lernbesonderheiten
Diese Lernbesonderheiten vor dem Hintergrund schulischen Lernens wahrzunehmen und zu beachten. Schülerinnen und Schüler mit autistischen Verhaltensweisen haben ein so ungewöhnliches Lernverhalten, dass Unterricht besonderer inhaltlicher, räumlicher und methodischer Bedingungen bedarf.
Eingeschränkte Kommunikationsmöglichkeiten
Viele Menschen mit autistischen Verhaltensweisen benutzen gar keine Verbalsprache oder benutzen sie nicht im Sinne von Kommunikation. Das heißt, sie haben vielfältige Formen von sprachlichen Äußerungen wie zum Beispiel Echolalien, manchmal eine stark verzögerte Sprache oder sprachliche Rituale wie immer wie- derkehrende Fragen, deren Antworten sie längst wissen oder immer die gleichen Geschichten; automatisierte Antworten / Redewendungen u. Ä. Außerdem benutzen die meisten keine alternativen Kommunikationsstrategien wie Mimik, Gestik, Körpersprache oder Gebärden. Damit ist die Vermittlung von Unterrichtsinhalten und die Beteiligung am Unterrichtsgeschehen erheblich eingeschränkt.
Lernstrategien
Menschen mit autistischen Verhaltensweisen haben oft uns unbekannte Lernstrategien, die sie nur ungern zugunsten von vorgegebenen formalen Lernschritten aufgeben (z. B. in Mathematik) und Leistungsinseln, die schwer in einen systematischen Lernkurs einzubinden sind (z. B. die Kalenderspezialisten, die Fahrplanspezialisten, die Telefonnummerspezialisten u. Ä.). Es ist nicht klar, nach welchen Kriterien sie Lerninhalte selektieren. Die Vorstellung einer hierarchisch aufgebauten Entwicklung von Kompetenzen vom Basalen zum Abstrakten lässt sich nur begrenzt anwenden.
Trotz geäußertem Wunsch nach mehr oder anderem Lernstoff ist bei vielen Schülerinnen und Schülern in der Unterrichtssituation wenig Lernaktivität zu beobachten. Sie vermitteln den Eindruck von Desinteresse, Abwesenheit und es gelingt oft nicht, gemeinsames Interesse am Lerngegenstand sichtbar zu wecken. Daraus wird häufig nicht nur auf mangelndes Interesse, sondern auf Unvermögen geschlossen. Bei genaueren Rückfragen ist feststellbar, dass mehr gehört und verstanden wurde als vermutet. So bildet die Diskrepanz zwischen gezeigtem und möglichem Lern- und Leistungsniveau, zwischen grundsätzlichem Lerninteresse und gezeigter Bereitschaft, sich systematischen Lernprozessen anzupassen, eine hohe methodisch-didaktische Herausforderung.
Handlungsplanung
Hier bestehen Auffälligkeiten in der Weise, dass Schülerinnen und Schüler mit autistischen Verhaltensweisen einerseits ein erhöhtes Maß an Training und Übung bei alltäglichen und relativ einfachen Handlungen benötigen und andererseits ist festzustellen, dass sie komplexe Abläufe unerwartet gut bewältigen. Das ist vor allem dann der Fall, wenn sie dies aus eigenem Antrieb tun. Werden in Übungsphasen Lernvorgänge verlangt, die beherrscht werden, führt diese Unterforderung bei den Schülerinnen und Schülern zu Gelangweiltsein, Unkonzentriertheit oder auch Rückzug.
Motivation und soziale Orientierung
Die Schülerinnen und Schüler mit autistischen Verhaltensweisen haben oft ein großes Interesse an eigenen Themen, lassen sich aber nicht auf schulische Angebote ein. Besonders im Einzelunterricht reagieren sie möglicherweise mit Unlust und Abwehr, sobald eine Frage von ihnen nicht beantwortet werden kann oder bei fort- gesetzter Bearbeitung eines Themas. Dagegen wird in einer Gruppe, die ihnen soziale Orientierung bietet, eher eine Weiterarbeit möglich. Man erlebt immer wieder die Ambivalenz zwischen Anpassung bei passenden Vorbildern und der Abwehr gegen Wiederholungs- und Übungsphasen in bekanntem Lernstoff. Diese Situationen lassen die Schülerinnen und Schüler mit autistischen Verhaltensweisen häufig in Unkonzentriertheit oder in den totalen Rückzug abgleiten.
Ein anderes Verstehen von Begriffen und Situationen
Manche Schülerinnen und Schüler mit autistischen Verhaltensweisen können sich nur bedingt in andere Menschen, Rollen, Situationen hineinversetzen. Das, was Kinder im Rollenspiel üben und lernen, nämlich eine Vorstellung zu entwickeln davon, was andere Menschen denken, ist bei Kindern mit autistischen Verhaltensweisen selten zu beobachten. Somit fehlt ein wichtiger Schritt in der sozialen und kommunikativen Entwicklung.
Grundsätze der Unterrichtsgestaltung
Wissen um diese Lernbesonderheiten führt zu Verständnis und zu angepassten schulischen Handlungsformen. Dieser Aspekt ist besonders hilfreich, weil Schülerinnen und Schüler mit autistischen Verhaltensweisen wenig zum unmittelbaren Verständnis ihres Verhaltens in der Situation erklären können und dies zu Fehlinterpretationen führen könnte. Kommunikationsförderung und soziale Eingliederung haben Priorität.
Durchgängig durch alle Überlegungen zu Planung und Umsetzung von Unterricht sind
eine strukturierte Unterrichtsgestaltung und
eine professionelle Beziehungsgestaltung zu beachten, die durch eine reflektierte Grundhaltung von Respekt und Akzeptanz geprägt ist. Jede Lehrkraft muss sich bewusst sein, dass es sich um Schülerinnen und Schüler handelt, die in höchstem Maße abhängig und oft manipulierbar sind.
Strukturierung des Unterrichts
Personelle, räumliche und zeitliche Rhythmisierung des Schulalltags sind unerlässliche Elemente, um den Schülerinnen und Schülern mit autistischen Verhaltensweisen Struktur und Orientierung zu geben. Ein geregelter Stundenplan mit klaren Zu- ordnungen von Personen und Räumen ermöglicht in der Vorausschau den Schülerinnen und Schülern die Sicherheit, Verlässlichkeit und Orientierung, die sie in hohem Maße benötigen.
Rituale und Rhythmisierung im Unterricht haben dieselbe wichtige Funktion.
Beispiele:
Begrüßungsrituale
Ritualisierung der Übungsphasen
Ritualisierter Ablauf von bestimmten Unterrichtsstunden
Weiterentwicklung und Flexibilität dürfen durch zu starre Ritualisierung jedoch nicht behindert werden.
Moderne Unterrichtskonzepte mit einem hohen Maß an sich selbst strukturgebender Eigenaktivität der Schülerinnen und Schüler stellen an diese Schülergruppe besondere Anforderungen. Sie machen zusätzliche Orientierungshilfen unumgänglich.
Beispiele:
streng ritualisierte Abläufe
Eindeutigkeit von Aufgaben
ein besonderes Selbstkontrollsystem in Form von "Abarbeiten" von Laufzetteln unter Einbeziehung von Hilfen wie Buttons, Token, Gummibärchen, Legosteine, u. Ä.
Eröffnung von vielfältigen Kommunikations- und Interaktionsmöglichkeiten
Das Bedürfnis nach Kontakt, Austausch und Mitteilung sollte unbedingt befriedigt werden. Nur so können Menschen aktiv an der eigenen Lebensgestaltung teilhaben. Im Unterricht hat dieser Auftrag eine besondere Bedeutung da ohne funktionieren- des Kommunikationssystem schulische Leistungen und Fähigkeiten nicht gezeigt werden können.
Zur Erweiterung der kommunikativen Fähigkeiten nichtsprechender Menschen hat die Gesellschaft ISAAC (International Society for Augmentative and Alternative Communication) das Konzept der Unterstützten Kommunikation entwickelt, welche ein breites Spektrum an nonverbalen Kommunikationssystemen erprobt, weiterentwickelt und verbreitet hat. Ziel dabei ist, eindeutige Mitteilungsformen aufzubauen. Die vielfältigen Angebote an Kommunikationsmethoden sind auf ihre Eignung für den jeweiligen Schüler hin zu überprüfen. Gleichwohl hat die Förderung der aktiven Sprache und des Sprachverständnisses Vorrang vor den nonverbalen Kommunikationssystemen.
Für Menschen mit autistischen Verhaltensweisen haben sich
Gebärdensysteme und
Bildsysteme, die im Einzelfall in Kombination mit verbalen Ausdrucksformen zu verbinden sind,
bewährt.
Gestützte Kommunikation (FC für Facilitated Communication) ist eine Methode, die es manchen Menschen mit schweren kommunikativen Beeinträchtigungen ermöglicht, sich durch Deuten bzw. Tippen auf Gegenstände, Bilder, Symbole oder Buchstaben mitzuteilen.
Angemessenheit des Lernangebots
Das von den Schülerinnen und Schülern mit autistischen Verhaltensweisen gezeigte Verhalten führt häufig zu Irritationen und zu Fehleinschätzungen des tatsächlichen Lernniveaus. Unterforderung kann dasselbe Rückzugs- und Verweigerungsverhalten hervorrufen wie Überforderung. Manchmal signalisieren diskrete Zeichen Interesse und geben Hinweise auf Angemessenheit des Lernangebots.
Die Angemessenheit eines Lernangebots lässt sich, bedingt durch zwei Faktoren, oft nur sehr schwer einschätzen.
Schülerinnen und Schüler mit autistischen Verhaltensweisen lassen selten erkennen, dass sie den Stoff beherrschen. Dies führt bei Pädagoginnen und Pädagogen meist zur Absenkung des Lernniveaus und damit zur Verstärkung einer Verweigerungshaltung.
Die Ausführung komplexer, nicht automatisierter Handlungen ist schwierig. Sie müssen für die Schülerinnen und Schüler zunächst in einzelne Schritte zerlegt, geübt und aufgebaut werden.
Differenzierung der Organisationsform
Neben dem Lernen in der Klasse ist für viele Schülerinnen und Schüler mit autistischen Verhaltensweisen Lernen im Einzelunterricht unumgänglich. Dieser Einzelunterricht sollte in angemessenem Anteil den Klassenunterricht ergänzen, dort wo es sinnvoll ist. Auf keinen Fall sollte er zur Isolation des Schülers oder der Schülerin führen.
Einzelunterricht ist vor allem da sinnvoll, wo die Grenze der emotionalen Belastbarkeit sowohl der Klasse als auch der Schülerinnen und Schüler mit autistischen Verhaltensweisen erreicht ist.
Differenzierung der unterrichtlichen Handlungsform
Handlungsorientierter Unterricht ist für Schülerinnen und Schüler, die Schwierigkeiten haben, Willkürmotorik einzusetzen, außerordentlich frustrierend. Sie können oft Handlungen abstrakt planen, sind aber nicht in der Lage, diese handelnd umzusetzen. Manchmal entgleitet ihnen ihre Aufmerksamkeit während der Durchführung der Handlungskette.
Dies sollte bei der Planung des Unterrichts berücksichtigt und gegebenenfalls durch Differenzierung der Ausführung oder durch Wiederholung der Aufforderung kompensiert werden.
Eigenaktivität
Unterricht soll für Schülerinnen und Schüler mit autistischen Verhaltensweisen im besonderen Maße eine Herausforderung zur Eigenaktivität sein.
Viele der Schülerinnen und Schüler zeigen sich in Passivität und selbststimulierendem Verhalten. Daraus ist nicht zwangsläufig auf Desinteresse zu schließen. Die Ursache liegt möglicherweise im Unvermögen, eine Handlung auszuführen, d. h. die Willkürmotorik zu steuern. Deshalb sind neue Bewegungsmuster anzubahnen, die zu Alltagshandlungen führen können. Außerdem sind Eigenaktivitäten der Schülerinnen und Schüler zu fördern, die das Repertoire von Handlungsmustern erweitern. Dabei sind kleine Schritte zu beachten und anzuerkennen.
Respektierung der besonderen Welt- und Menschensicht
Die Lebensrealität der Menschen mit autistischen Verhaltensweisen ist geprägt:
durch Einschränkungen der Erlebniswelt
durch andere Gewichtungen der Wahrnehmungen und andere Bewertungen von Erlebtem
durch das Bemühen, eine Kontrolle über die Umwelt zu gewinnen und
durch Rückzug.
Sie können ihre Erfahrungen oft nicht auf neue Situationen übertragen und es fehlt ihnen das Verständnis für Gemeinsamkeit von Situationen. Somit unterscheidet sich ihre Erlebenswelt von der unsrigen. Sie haben zu vielen Themenbereichen im Unterricht keinen Zugang, keine durchgängigen Erfahrungen oder kein Interesse. Diese Einschränkungen der Erfahrungswelt und ihre Konsequenzen bedürfen besonderer Beachtung.
Didaktische Konsequenzen
Aus den dargestellten Lernbesonderheiten ergeben sich für das unmittelbare unterrichtliche Handeln folgende Hinweise:
Sprachlich
kurze, klare Anweisungen mit gleichen Wiederholungen
auf Sprechtempo achten: beim Hören muss man sich dem Tempo des Sprechers anpassen. Gehörtes ist - einmal ausgesprochen - weg
Schülerinnen und Schüler immer direkt ansprechen, sowohl mit Blickkontakt, als auch sprachlich
Strukturell
beachten von Sitzanordnungen
beachten von möglichen Reizüberflutungen
strukturieren von Wahrnehmungsprozessen
strukturieren von Handlungsabläufen
strukturieren von Zeitabläufen
strukturieren von Raum
strukturieren durch klare Zuordnung von Personen
strukturieren von Zukünftigem durch Vorausschau
Visuell
Zusätzliche Visualisierung im Unterricht ist für diese Schülergruppe sehr hilfreich:
es kann wiederholt angeschaut werden und es ist ein mehrfaches Feedback möglich
schriftliches Arbeitsmaterial ist klarer zu strukturieren und im Inhalt zu begrenzen (Ablenkbarkeit)
Bilder, Medien, Materialien und Arbeitsblätter geben eindeutige Informationen und können besser bearbeitet werden
Handelnd
Eine gezielte Förderung der sensomotorischen Entwicklung im Zusammenhang mit erhöhten Übungsfrequenzen unterstützt die Erweiterung des Handlungsrepertoires.
Didaktisches Material
Didaktisches Material sollte unter den Gesichtspunkten
Lerninhalt
Wahrnehmungsproblematik
Handhabbarkeit
ausgewählt, hergestellt und eingesetzt werden.
Dies könnte sein:
Material zum Greifen, welches motorische Ungeschicklichkeit berücksichtigt durch Größe, durch griffige Oberflächenstruktur, durch Handhabbarkeit ( also vielleicht mit passendem Griff), durch Möglichkeit der Haftung auf der Unterlage wie z. B. Magnete oder Klettband
Material zum Umfassen, damit mangelnde Raumerfahrung kompensiert werden kann
Material zum Beschäftigen mit bevorzugten Spielen wie z. B. Puzzles, in denen Unterrichtsinhalte so angeboten werden, dass der Puzzle-Spieler sich am Inhalt orientieren muss, anstatt an der Form des Puzzleteils.
Material zum Schauen, welches angemessen in Größe und Form, eindeutig in der Darstellung, klar in Schrift und Gliederung ist
Material, welches die eingeschränkte Lebens- und Erfahrungswelt der Schülerinnen und Schüler berücksichtigt (zum Beispiel verstehen Menschen mit autistischen Störungen oft keine Comics, keine satirischen Abbildungen).
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