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Schulische Förderung von Kindern und Jugendlichen mit autistischen Verhaltensweisen (1)

Pädagogischer Auftrag der Schulen


Die Schulen verwirklichen den im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, in der Verfassung des Landes Baden-Württemberg und im Schulgesetz für Baden-Württemberg verankerten Erziehungs- und Bildungsauftrag für alle Kinder und Jugendlichen. Schülerinnen und Schüler mit autistischen Verhaltensweisen besuchen die Schule, deren Bildungsgang ihrem Leistungsvermögen entspricht.


Aufgrund der besonderen Gegebenheiten des Autismussyndroms ist die Leistungsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler manchmal erst nach einer längeren Phase der Eingewöhnung und der Erprobung schulischer Förderformen feststellbar. Die geeignete Schule für eine autistische Schülerin oder einen autistischen Schüler zu finden, kann daher mit einem längeren Suchprozess verbunden sein. Ebenso kann es erforderlich werden, dass der Schulbesuch durch ein abgestimmtes System schulischer und außerschulischer Hilfen unterstützt wird.


Der Kooperation zwischen den Schularten, zwischen Schulen und außerschulischen Unterstützungssystemen und insbesondere mit den Eltern kommt daher bei der Förderung von Kindern und Jugendlichen mit autistischen Verhaltensweisen eine herausragende Bedeutung zu.

Die Bandbreite des Erscheinungsbildes autistischer Verhaltensweisen reicht von inten-siven Ausprägungsformen, für die in der schulischen Förderung differenzierte und umfängliche Hilfen bereit gestellt werden müssen, bis hin zu gelegentlich als "sonderbar" erlebten Verhaltensweisen bei einzelnen Schülerinnen und Schülern, die in einer verständnisvollen Lernumgebung weitgehend ohne besondere Betreuung dem Bildungsgang der von ihnen besuchten Schule folgen können. Angesichts der Auftretenshäufigkeit, der Vielfalt der Erscheinungsformen des Autismussyndroms und der oftmals von den Betroffenen als unbefriedigend erlebten schulischen Situation steht das schulische Bildungssystem vor der Herausforderung, für diesen Personenkreis innerhalb der be- stehenden Institutionen ein den heutigen Qualitätsansprüchen genügendes Bildungsangebot bereit zu stellen.

Hierzu sind von den Verantwortlichen in den Schulen und der Schulverwaltung vor Ort in kooperativen Arbeitsformen - unter Nutzung der schulorganisatorischen und curricularen Freiräume - flexible Formen der schulischen Förderung zu entwickeln, die dem individuellen und spezifischen Förderbedarf von Kindern und Jugendlichen mit autistischen Verhaltensweisen entsprechen.


Erst dieser individualisiert abgestimmte Bildungsweg bietet für Schülerinnen und Schü- ler mit autistischen Verhaltensweisen die Gewähr für die Einlösung der Schulbesuchspflicht bzw. des Rechts auf angemessene schulische Bildung und Erziehung.


Auftrag und Aufgabe aller Schularten ist es, Möglichkeiten des Unterrichts und der Förderung zu entwickeln, die dem Förderbedarf von Kindern und Jugendlichen mit autistischen Verhaltensweisen entsprechen.


Dieser pädagogische Auftrag der Schulen ergibt sich unmittelbar aus den §§ 1 und 15 Schulgesetz, aus der Verwaltungsvorschrift "Kinder und Jugendliche mit besonderem Förderbedarf und Behinderungen" vom 22.08.2008 ( Kultus und Unterricht 2008, S.149 ff. und S. 179) sowie deren Grundlagen in der Landesverfassung und dem Grundgesetz (vgl. LV Art 11 Abs.1 und GG Art.3 Abs.3).

Die schulische Förderung von Kindern und Jugendlichen mit autistischen Verhaltens- weisen erfolgt in Abstimmung mit den elterlichen Lebens- und Erziehungsvorstellungen. Dabei wird das Einvernehmen mit den Eltern angestrebt.


In der intensiven Auseinandersetzung mit ihren Kindern haben sich die Eltern in der Regel umfangreiches Wissen und differenzierte Kompetenzen angeeignet. Sie erwarten von der Schule, dass ihre Erfahrungen auch in der schulischen Förderung Berücksichtigung finden. Für die betroffenen Kinder und Jugendlichen bestehen günstige Entwicklungsbedingungen, wenn Schule und Elternhaus ihr erzieherisches Handeln aufeinander abstimmen, indem sie die Grundbedürfnisse dieser Kinder und Jugendlichen nach Berechenbarkeit, Verlässlichkeit und Kontinuität beachten.


Allgemeines

Autistische Verhaltensweisen sind grundsätzlich durch Erziehung, Unterricht, spezifische Förderung und Therapie in ihrem jeweiligen Erscheinungsbild langfristig beeinflussbar. Die Vielfalt und Besonderheit des Erscheinungsbildes, die oftmals schwer einschätzbare tatsächliche Leistungsfähigkeit sowie nicht vorhersehbare Entwicklungsverläufe erfordern in besonderem Maße individualisierte und flexibel gestaltete Lern- und Bildungswege.


Aus zahlreichen Erfahrungen mit unbefriedigend erlebten Schulsituationen Betroffener ist bekannt, dass Schulschwierigkeiten oftmals Ausdruck von Fehleinschätzungen der Lern- und Leistungsfähigkeit sind oder auf Fehlinterpretationen der besonderen Verhaltensweisen beruhen. Vor allem dann, wenn erhebliche Verhaltensauffälligkeiten und zusätzliche Behinderungen vorliegen, werden diesen Schülern beispielsweise durchschnittlich ausgeprägte kognitive Fähigkeiten oftmals nicht zugetraut. Andererseits können lebenspraktische Ungeschicklichkeiten, undifferenzierte soziale Umgangsformen oder eingeschränkte Interessen auch bei hochbegabten Kindern und Jugendlichen zu Ausgrenzungen führen, die die vorhandenen Rückzugstendenzen zusätzlich verstärken. Die Diagnose "Autismus" kann deshalb fachlich orientierte Bewertungen und pädagogisch angemessene Handlungsformen eröffnen, die für die betroffenen Schüler, für die Eltern und nicht zuletzt für die Schule und die einzelne Lehrkraft entlastend wirken.


Die Lernfähigkeit der Schülerinnen und Schüler mit intensiven Ausprägungsformen des Autismussyndroms ist schwer feststellbar. Häufig können erst nach einer längeren Erprobungsphase der schulischen Förderung, in der die Schülerinnen und Schüler auch mit Lernanforderungen konfrontiert werden, die über ihrem angenommenen Lernniveau liegen, fundierte Aussagen und Prognosen über die Lernfähigkeit getroffen werden.


In der Regel verlaufen die Schulkarrieren autistischer Schülerinnen und Schüler nicht linear. In Einzelfällen kann die Suche nach einem geeigneten Lernort sehr aufwändig sein und nur unter Beteiligung außerschulischer Dienste und Kostenträger und deren zusätzlicher Maßnahmen realisiert werden.


Damit die Schülerinnen und Schüler mit autistischen Verhaltensweisen eine ihrer Begabung entsprechende Schule besuchen können, kann es notwendig sein, ihnen eine ständige Begleitperson zur Seite zu stellen. Die Schulbegleitung schafft im Einzelfall die Voraussetzungen für einen Schulbesuch und sichert diesen, indem sie die behinderungsbedingt erforderliche individuelle Unterstützung übernimmt. Dies beinhaltet insbesondere den hohen Bedarf an individueller Orientierungsgebung im schulischen Alltag, eine intensive Unterstützung bei der Handhabung von Lehr- und Lernmaterialien, vor allem aber eine stützende Funktion bei der Kommunikation und Interaktion mit Lehrkräften und Mitschülerinnen und Mitschülern.


Die Bereitstellung einer Schulbegleitung muss im Rahmen einer Hilfeplanung durch den zuständigen Kostenträger, in der Regel durch das örtliche Sozial-/Jugendamt, geklärt und entschieden werden.


Für das schulische Bildungssystem erwachsen aus der Lebenssituation von Kindern und Jugendlichen mit autistischen Verhaltensweisen eine Vielzahl von Aufgaben und Fragestellungen, die nur in gemeinsamer Verantwortung bewältigt werden können. Alle Schularten und die Schulverwaltung sind daher bei der Beratung, Planung und Umsetzung der schulischen Förderung für diese Schülergruppe in besonderer Verantwortung, zu verlässlichen Lösungen beizutragen. Unterstützt werden sie nach Entscheidung im Einzelfall von außerschulischen Maßnahmeträgern.


Grundsätze


Die schulische Förderung von Kindern und Jugendlichen mit autistischen Verhaltensweisen wird von folgenden Grundsätzen geleitet:


Recht auf eine den individuellen Lern- und Leistungsmöglichkeiten entsprechende Bildung und Erziehung


Die Schülerinnen und Schüler besuchen die Schulart, deren Bildungsgang ihrem Lernvermögen entspricht. Daher sind unter Berücksichtigung der finanziellen, personellen und organisatorischen Möglichkeiten dem individuellen Förderbedarf entsprechende Rahmenbedingungen zu gestalten. Liegt ein sonderpädagogischer Förderbedarf vor, so wird dieser in kooperativen Arbeitsformen in der allgemeinen Schule oder in einer Sonderschule eingelöst.


Transparenz und Beteiligung der Betroffenen an Planungen und Entscheidungen


Je nach Ausprägungsgrad des Autismussyndroms sind die betroffenen Schülerinnen und Schüler gefährdet, von der Mitgestaltung ihres Lebens ausgeschlossen zu werden. In Einzelfällen kann dies Ablehnung oder gar Verweigerungshaltungen hervorrufen, die fälschlicherweise dem Autismussyndrom zugeschrieben werden. Die Wirksamkeit pädagogischer Maßnahmen ist bei Schülerinnen und Schülern mit autistischen Verhaltensweisen in hohem Maße von ihrer Mitarbeitsbereitschaft abhängig. Änderungen der schulischen Förderung müssen den Schülerinnen und Schülern begründet, rechtzeitig mit ihnen vorbereitet und abgesprochen werden, auch wenn dieser Klärungsprozess nicht immer befriedigend erfolgen kann.


Akzeptanz der Besonderheit autistischer Schülerinnen und Schüler


Die eigene Weise von Menschen mit autistischen Verhaltensweisen, die Umgebung und Personen wahrzunehmen und auf sie einzuwirken, ist zu respektieren.


Um Fehldeutungen einzelner Verhaltensweisen vorzubeugen, ist eine vertiefte Aus- einandersetzung mit den allgemeinen und individuellen Erscheinungsformen des Autismussyndroms unumgänglich. Hierbei sind die Kenntnisse des familiären Lebensumfeldes besonders wertvoll. Als hilfreich haben sich darüber hinaus Fortbildungen, Hospitationen sowie die Beratung durch die Autismusbeauftragten erwiesen. Besondere Sorgfalt sollte darauf verwandt werden, die Mitschülerinnen und Mitschüler auf einen angemessenen und verständnisvollen Umgang mit einem betroffenen Schüler bzw. einer betroffenen Schülerin in der Klasse bzw. in der Schule vorzubereiten.


Günstig wirkt es sich aus, wenn das Kollegium einer Schule es sich zur Aufgabe macht, die unterrichtlichen und erzieherischen Maßnahmen für einen Schüler oder eine Schülerin mit autistischen Verhaltensweisen aufeinander abzustimmen und insgesamt für eine akzeptierende Haltung aller zu sorgen.


Ganzheitlichkeit und Individualität der Förderangebote


Schülerinnen und Schüler mit autistischen Verhaltensweisen können an zahlreichen Lernangeboten des Klassenunterrichts teilnehmen. Gemeinschaftsbezogenes Lernen sollte gegenüber Formen der äußeren Differenzierung bevorzugt werden. Zur Verbesserung des Lernerfolgs sind schulisches Lernen und spezielle Förderangebote dem jeweiligen Förderbedarf und den individuellen Lernformen anzupassen. Dies hat zur Konsequenz, dass die Schule unterschiedliche Wege des Lernens und der Leistungsnachweise zulassen und bereitstellen muss.


Schulisches Lernen ist in eine umfassende Förderkonzeption eingebunden, die die Persönlichkeitsentwicklung insgesamt positiv unterstützt. Neben der Abstimmung mit anderen Förderangeboten sind in der Schule auch Lerninhalte zu berücksichtigen, die einen unmittelbaren Bezug zur Lebensumgebung des Schülers herstellen. Spezifische Förderangebote und therapeutische Hilfen in einzelnen Bereichen, wie z. B. Sprache, Motorik, Wahrnehmung, soziales Verhalten, Alltagshandlungen, sind in einen sinnvermittelnden Rahmen einzubetten. Funktionsorientierte Trainingsformen können dazu beitragen, spezielle Fertigkeiten aufzubauen, dürfen aber als Lernform nicht vorherrschen.


Verlässlichkeit und Anpassung der Maßnahmen


Kurzzeitig auftretende Störungen der Befindlichkeit und phasenweise wechselnde Entwicklungsverläufe gehören zum Erscheinungsbild des Autismus. Durch sie kann der Schulbesuch gefährdet sein, wenn es nicht gelingt, mit diesen Phänomenen flexibel umzugehen, gegebenenfalls kurzfristig neue Formen der schulischen Förderung - eventuell befristeten Einzelunterricht - zu praktizieren, eine intensivere Form der Begleitung zur Verfügung zu stellen oder auch einen Wechsel der Schule vorzu nehmen. Alle Maßnahmen müssen zunächst darauf abzielen, die Förderung an der Schule, die dem Leistungsvermögen des Schülers oder der Schülerin entspricht, zu verbessern, um dadurch ein Höchstmaß an Berechenbarkeit, Verlässlichkeit und Kontinuität in der Schullaufbahn zu erreichen. Hierfür ist eine auf den einzelnen Schüler oder die einzelne Schülerin bezogene Vernetzung

der Maßnahmeträger, der schulischen Hilfssysteme, der einzelnen Lehrkräfte sowie der Eltern erforderlich.




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