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Monitoring-Stelle UN-BRK - Parallelbericht (3)

Artikel 9: Zugänglichkeit

Produkte und Dienstleistungen

Zur Umsetzung des European Accessibility Act (EAA) wurde 2021 das sogenannte Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) verabschiedet. Das Gesetz beschränkt sich auf die absoluten Mindestvorgaben des EAA. Vorhandene Spielräume, um Barrierefreiheit darüber hinaus herzustellen (etwa bei Gesundheitsdienstleistungen, Dienstleistungen im Bildungsbereich, bei Haushaltsgeräten oder durch Einbeziehung der baulichen Umgebung von Geräten) wurden nicht genutzt. Die Rechtsdurchsetzung wird untergraben durch lange Übergangsfristen, weite Ausnahmetatbestände und schwache Sanktionen. Außerdem wurde die Markt­überwachung nicht effektiv geregelt: Bund und Länder schieben sich hierfür seit 2021 gegenseitig die Verantwortung zu; eine funktionierende Überwachungsbehördenstruktur fehlt bis heute.


Generell wird beim universellen Design sowie bei der Barrierefreiheit von Produkten und Dienstleistungen weiterhin primär auf Eigenverantwortung beziehungsweise Selbstverpflichtung der Wirtschaft gesetzt, obwohl dies bislang nicht zielführend war.


Bei der Umsetzung des EAA wurde eine wichtige Gelegenheit verpasst, die Barrierefreiheit von Produkten und Dienstleistungen zu verbessern. Dafür gab es keine wirtschaftlichen oder rechtlichen Hinderungsgründe. Hinzu kommt, dass der Vertragsstaat regelmäßig erst dann aktiv wird, wenn Vertragsverletzungsverfahren durch die Europäische Kommission drohen.


Dies steht nicht im Einklang mit Artikel 4 Absatz 2 UN-BRK und wird auch den Verpflichtungen des Vertragsstaats, wie sie in der Allgemeinen Bemerkung Nr. 2 des Ausschusses formuliert sind, nicht gerecht.


Die Monitoring-Stelle regt an, dem Vertragsstaat zu empfehlen,

  • die gesetzlichen Vorgaben zur Barrierefreiheit von Produkten und Dienstleistungen nachzuschärfen, mit wirksamen Durchsetzungsmechanismen zu versehen und unverzüglich eine effektive, mit angemessenen Befugnissen und Ressourcen ausgestattete Marktüberwachungsstruktur aufzubauen.


Wohnungsbau

In Deutschland mangelt es flächendeckend an barrierefreiem Wohnraum: Weniger als 2,5 % der vorhandenen etwa 37 Millionen Wohnungen sind „barrierereduziert“. Der Anteil von ohne Einschränkungen auch für Rollstuhlfahrer*innen nutzbaren Wohnungen ist nochmals geringer. Zudem werden neu gebaute, barrierefreie Wohnungen nur zum Teil an Menschen mit Behinderungen verkauft oder vermietet; eine Belegungssteuerung findet allenfalls im sozialen Wohnungsbau statt und bleibt ansonsten den Marktmechanismen überlassen.


Im Bereich der sozialen Wohnraumförderung sind Ansätze erkennbar, Barrierefreiheit als wesentliches Element sozialen Bauens miteinzuplanen. 2022 hat die Bundesregierung das „Bündnis bezahlbarer Wohnraum“ ins Leben gerufen, in dessen Rahmen auch Maßnahmen zur Förderung von bezahlbarem und barrierefreiem Wohnraum vereinbart wurden. Diese verweisen aber lediglich auf bestehende Förderinstrumente oder enthalten ergebnisoffene Prüfaufträge bis 2024. Insgesamt sind keine ernsthaften Bemühungen erkennbar, barrierefreies Bauen durchgängig zum Standard zu machen und wirksam durchzusetzen.


Die Bauvorschriften der Länder enthalten nur rudimentäre Regelungen zur Barrierefreiheit: In Wohngebäuden müssen in der Regel lediglich die Wohnungen eines Geschosses barrierefrei erreichbar sein; außerdem können für Bauherren bei „unverhältnismäßigem Mehraufwand“ Ausnahmen gewährt werden, wovon oft Gebrauch gemacht wird. Zudem wird die tatsächliche Einhaltung der Barrierefreiheits-Standards durch die Behörden kaum kontrolliert, weder während des Baus noch nach Fertigstellung. Immer wieder kommt es bei vorgeblich barrierefrei geplanten Vorhaben zu fehlerhaften Planungen oder Bauausführungen.


Die bestehenden Förderinstrumente und Bauvorschriften reichen nicht aus, um die Barrierefreiheit im Wohnungsbestand signifikant zu verbessern. Vorhandene Regulierungsmöglichkeiten werden nicht ausgeschöpft, meist mit der Begründung von höheren Baukosten durch mehr Flächenverbrauch für Barrierefreiheit. Dies zeigt, dass auch bei Neubauten wirtschaftliche Interessen nach wie vor höher gewichtet werden als die Vorgaben der UN-BRK. Die Missachtung von Artikel 9 und 19 UN-BRK hat zur Folge, dass man im Wohnungsneubau weiter massiv Barrieren produziert, die den Baubestand der nächsten Jahrzehnte prägen werden.


Die Monitoring-Stelle regt an, dem Vertragsstaat zu empfehlen,

  • die Verpflichtung zu barrierefreiem Bauen deutlich auszuweiten und auch im privaten Bausektor den Bau von nicht-barrierefreien Wohnungen und öffentlich zugänglichen Gebäuden nur in eng umgrenzten, vom Bauherrn zu begründenden Ausnahmefällen zuzulassen;

  • staatliche Unterstützung privater Bautätigkeit in Form von Fördergeldern, Zuschüssen, Steuererleichterungen und sonstigen Anreizsystemen sowohl im Neubau als auch im Bestand nur für Vorhaben zu gewähren, die den Standards barrierefreien Bauens genügen;

  • die zuständigen Aufsichtsbehörden zu schulen und mit ausreichenden Ressourcen und Befugnissen auszustatten, damit diese die Einhaltung der Barrierefreiheitsverpflichtungen kontrollieren und Verstöße wirkungsvoll und nachhaltig ahnden können.



Artikel 10: Recht auf Leben

Triage bei pandemiebedingten Versorgungsengpässen

Seit 20.12.2022 ist per Gesetz geregelt, wie in einer pandemiebedingten Notlage, in der die intensivmedizinischen Behandlungskapazitäten nicht mehr für alle ausreichen, die Ressourcen zuzuteilen sind. Danach soll in einer Triage-Situation anhand der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit der betroffenen Person ent­ schieden werden, um maximal viele Menschen zu retten. Jegliche Einstufung anhand einer Behinderung, des Alters oder anderer Merkmale gilt als Diskriminierung und ist verboten, ebenso wie ein Behandlungsabbruch einer begonnenen intensiv- medizinischen Behandlung zugunsten einer anderen Person mit besserer Überlebensprognose.


Die gesetzliche Regelung erfolgte erst, nachdem mehrere Menschen mit Behinderungen erfolg­reich Verfassungsbeschwerde gegen potenziell diskriminierende Richtlinien ärztlicher Fachge­sell­schaften erhoben hatten.


Das beschlossene Gesetz steht nicht im Einklang mit der UN-BRK. Trotz des darin formulierten Benachteiligungsverbots ist es ein Einfallstor für die indirekte Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen und von älteren Menschen. Zudem wird durch das gesetzliche Kriterium der „aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit“, das ein „survival of the fittest“ fordert, eine unverrückbare Grenze der Grund- und Menschenrechte überschritten: Die Menschenwürde verbietet es, Menschenleben zahlenmäßig gegen­ einander aufzuwiegen und eine Bewertung mensch­lichen Lebens staatlich zu legitimieren.


Im Gesetzgebungsverfahren reflektierten weder das zuständige Bundesministerium noch das Parlament die menschenrechtliche Tragweite dieser Regelung hinreichend. Den fundierten rechtlichen Argumenten von Menschen mit Behinderun­gen und ihren Organisationen wurden im Beteiligungsverfahren deutlich weniger Gewicht zugemessen als der medizinischen Argumentation der Ärzteschaft.


Die Monitoring-Stelle regt an, dem Vertragsstaat zu empfehlen,

  • darauf hinzuwirken, die verabschiedete Regelung hinsichtlich ihrer Vereinbarkeit mit den Grund- und Menschenrechten vom Bundesverfassungsgericht überprüfen zu lassen.



Artikel 11: Gefahrensituationen und humanitäre Notlagen

Barrierefreier Notruf und Katastrophenschutz

Notrufdienste sind inzwischen weitgehend barrierefrei zugänglich, auch für Menschen mit Hör- und / oder Sprachbeeinträchtigungen. Schwierigkeiten bestehen noch bei der vollständigen Integration Deutscher Gebärdensprache in die bestehenden Notrufstrukturen.


Zuletzt traten deutliche Mängel im Katastrophenschutz und Notfallmanagement zu Tage. Bei der Erarbeitung, Anpassung beziehungsweise Umsetzung von Notfallplänen und -konzepten wurden Menschen mit Behinderungen nicht oder nur verspätet beteiligt und zu wenig mitgedacht. Warnungen an die Bevölkerung sowie Information und Kommunikation in Krisensituationen erfolgen kaum barrierefrei. Infolge einer fatalen Verkettung dieser Umstände starben im Juli 2021 während des Hochwassers im Ahrtal (Rheinland-Pfalz) zwölf Menschen mit Behinderungen in einem Wohnheim in Sinzig.


Die Maßnahmen des Vertragsstaats während der Corona-Pandemie (diskriminierende Freiheitseinschränkungen durch Quarantäneregeln und Kontaktbeschränkungen sowie Impfpriorisierungen) waren kaum teilhabeorientiert und zeigten ein veraltetes Bild von Behinderungen im Katastrophenschutz, das dem Paradigmenwechsel der UN-BRK hin zum menschenrechtlichen Modell nicht entspricht.


Die konzertierten Maßnahmen des Vertragsstaats für einen barrierefreien Notruf sind ein wichtiger Fortschritt. In Gänze betrachtet entsprechen die Vorkehrungen für den Katastrophenfall jedoch nicht den Vorgaben von Artikel 9, 11 und 21 UN-BRK und bergen Diskriminierungsrisiken, da sie die Lebenssituationen von Menschen mit Behinderungen nicht in ihrer Vielfalt berücksich­tigen.


Die Monitoring-Stelle regt an, dem Vertragsstaat zu empfehlen,

  • die Konzepte und Pläne für Notfall- und Katastrophensituationen unter Beteiligung von Menschen mit Behinderungen und den sie vertretenden Organisationen zu überarbeiten und an die heutige vielfältige Lebenswirklichkeit von Menschen mit Behinderungen anzupassen; dabei ist auf alle Aspekte barrierefreier Kommunikation zu achten;

  • bei der Bewältigung einer Notfall- oder Katastrophensituation Menschen mit Behinderungen und ihre Organisationen angemessen zu beteiligen und hierfür organisatorische Vorkehrungen zu treffen.



Artikel 12: Gleiche Anerkennung vor dem Recht

Betreuungsrecht

Die rechtliche Handlungsfähigkeit kann in Deutschland für erwachsene Personen mit Behinderungen eingeschränkt werden, wenn eine rechtliche Betreuung bestellt ist und eine erhebliche Selbstgefährdung angenommen wird. 2015 gab es schätzungsweise 1,25 Millionen Betreuungen, aktuellere bun­desweite Zahlen fehlen. Das Betreuungsrecht wurde nach mehrjährigem Vorlauf zum 1.1.2023 reformiert.


Das reformierte Recht verdeutlicht stärker als bisher, dass rechtliche Betreuung in erster Linie Unterstützung bedeutet und nicht Vertretung. Eine stärkere Bindung an Willen und Präferenzen der unter­­ stützten Person wurde kodifiziert und der irreführende Begriff des „Wohls“ gestrichen. Es sind jedoch nicht alle menschenrechtlich relevanten Punkte in der Reform aufgegriffen worden. Insbesondere können die unfreiwillige Unterbringung, Zwangsbehandlung und Zwangsfixierung nach wie vor durchgeführt werden.


Studien zeigen, dass in der Praxis ein beachtlicher Anteil aller Betreuungen durch alternative Unterstützungsangebote vermieden werden könnte und sich bestehende Betreuungen oft nicht ausreichend an der Selbstbestimmung der betreuten Person ausrichten. Bei rechtlichen Betreuer*innen und anderen Unterstützungspersonen bestehen Kenntnislücken und Vorbehalte bezüglich der unterstützten Entscheidungsfindung. Dass das Betreuungsrecht innerhalb der relevanten Ausbildungsgänge in Justiz, sozialer Arbeit und Verwaltung kaum thematisiert wird, verschärft die Problematik.


Die Reform war ein wichtiger Schritt zur Umsetzung der UN-BRK. Problematisch ist allerdings, dass die gesetzlichen Vorgaben für die Anwendung von Zwang davon ausgenommen wurden. In der Praxis bestehen weiterhin hohe Barrieren für eine menschenrechtskonforme Umsetzung und es fehlt an einer Strategie für die bundesweite Umsetzung von unterstützter Entscheidungsfindung. Die Datenlage im Betreuungswesen ist völlig ungenügend.


Die Monitoring-Stelle regt an, dem Vertragsstaat zu empfehlen,

  • Alternativen zur rechtlichen Betreuung zu stärken und auszubauen;

  • eine umfassende Strategie zur Umsetzung der unterstützten Entscheidungsfindung zu entwickeln, die unter anderem die Einrichtung einer entsprechenden Fachstelle, die flächendeckende Qualifizierung von relevanten Personengruppen und eine bundesweite differenzierte Datenerhebung zum Betreuungswesen umfasst;

  • ausreichende Ressourcen bereit­ zustellen, um die Umsetzung unterstützter Entscheidungsfindung sicherzustellen.

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