Artikel 5: Gleichberechtigung und Nichtdiskriminierung
Gesetzlicher Diskriminierungsschutz, Durchsetzbarkeit und Verankerung angemessener Vorkehrungen
Der Diskriminierungsschutz gegenüber Unternehmen und anderen privaten Akteuren deckt nach wie vor nicht alle Rechts- und Lebensbereiche von Menschen mit Behinderungen ab. Er ist vor allem im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) geregelt, erstreckt sich jedoch unverändert nur auf das Arbeitsleben und einen eingeschränkten Bereich von zivilrechtlichen Verträgen. Wichtige andere Verträge wie zum Beispiel private Behandlungsverträge bleiben ausgenommen. Auf Landesebene existiert bisher nur im Land Berlin ein Landesantidiskriminierungsgesetz. Angemessene Vorkehrungen spielen zwar im Rahmen der Auslegung des AGG und in der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) eine Rolle, eine explizite gesetzliche Verankerung angemessener Vorkehrungen im Privatrecht existiert jedoch weiterhin nicht.
Immerhin werten nun nahezu alle Länder und der Bund die Versagung von angemessenen Vorkehrungen durch öffentliche Stellen als eine justiziable Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen. Geregelt wurde dies aber nur in den jeweiligen Behindertengleichstellungsgesetzen. Die für die Praxis vielfach bedeutsameren spezialgesetzlichen Normen nennen entsprechende Verpflichtungen – bis auf einzelne Ausnahmen – weder im Wortlaut noch durch ausdrücklichen Verweis. Die Behindertengleichstellungsgesetze richten sich aber grundsätzlich nur an staatliche Stellen. Sie enthalten inzwischen zwar auch vereinzelte Verpflichtungen privater Akteure, aber nur zur Zulassung von Assistenzhunden und zur Bereitstellung barrierefreier Informationstechnik.
Da viele von Diskriminierung Betroffene die mit einem langwierigen Gerichtsverfahren einhergehenden Belastungen nicht tragen können, ermöglichen die Behindertengleichstellungsgesetze Verbandsklagen. Dieses Verbandsklagerecht wird in der Praxis jedoch kaum genutzt. Klageberechtigte Verbände führen dies zurück auf mangelnde finanzielle, personelle und zeitliche Ressourcen bei gleichzeitig hohem Prozesskostenrisiko, zu hohe Zulässigkeitshürden für Klagen und die zu geringe Wirkung eines erreichbaren Urteils. In der Regel kann nämlich durch Verbände nur die gerichtliche Feststellung einer Diskriminierung erwirkt werden, was oft nicht ausreicht, um die diskriminierende Praxis zu beenden und eine nachhaltige Veränderung zu bewirken. Weitergehende Klagen, etwa auf Unterlassung, Beseitigung von Verstößen oder Schadensersatz, sieht bislang nur das Land Berlin vor. Gegenüber privaten Akteuren ist bisher noch kein Verbandsklagerecht im AGG verankert. Die Forderung, dies zu ändern, existiert seit Längerem und bekommt derzeit verstärkt Nachdruck.
Menschen mit Behinderungen sind in Deutschland nicht ausreichend gegen Diskriminierung durch private Akteure geschützt. Es gibt weder auf Bundes- noch auf Landesebene hinreichend effektive Regelungen. Auf Bundesebene bedarf es zum einen einer Reform des AGG, um auch Menschen mit Behinderungen einen wirksamen Diskriminierungsschutz zu bieten. Zum anderen sollten auch die Behindertengleichstellungsgesetze private Akteure deutlich wirksamer adressieren.
Die bisherige gesetzliche Verankerung angemessener Vorkehrungen in Deutschland bleibt hinter der proaktiven Gewährleistungspflicht, wie sie in Artikel 5 Absatz 3 UN-BRK formuliert ist, deutlich zurück. Das Verständnis dessen, wie angemessene Vorkehrungen umgesetzt werden können, ist auch 2023 noch weitgehend unterentwickelt - sei es in der Verwaltung, in der Gerichtsbarkeit oder bei Anbietern von Sozialleistungen; dies betrifft insbesondere auch die Gewährleistung für Menschen mit psychischen und intellektuellen Beeinträchtigungen. Hier sind Grundlagenforschung und Schulungsangebote dringend erforderlich.
Die große Durchsetzungsschwäche des Antidiskriminierungsrechts könnte insbesondere durch ein umfassendes und effektives Verbandsklagerecht mit bundesweit gleichen Standards verbessert werden; dies fehlt jedoch bisher.
Die Monitoring-Stelle regt an, dem Vertragsstaat zu empfehlen,
den gesetzlichen Diskriminierungsschutz von Menschen mit Behinderungen gegenüber privaten Akteuren auf alle Rechts- und Lebensbereiche auszuweiten, mit den für öffentliche Stellen geltenden Vorschriften zu vereinheitlichen sowie effektiv als einklagbares Recht mit wirkungsvollen Rechtsfolgen auszugestalten;
die gesetzlichen Regelungen zu angemessenen Vorkehrungen auf den Privatsektor zu erweitern, um eine aktive Handlungspflicht zu ergänzen und in allen Bereichen systematisch Schulungen zur Umsetzung angemessener Vorkehrungen durchzuführen;
Verbandsklagen umfassend, einschließlich gegenüber privaten Akteuren, zu ermöglichen und wirkungsvoll auszugestalten, etwa durch Zulassung aller üblichen Klagearten, niedrige Zulässigkeitsvoraussetzungen sowie Verringerung des Prozesskostenrisikos mithilfe eines Rechtshilfefonds oder anderer Finanzierungsmöglichkeiten.
Artikel 6: Frauen mit Behinderungen
Empowerment und Förderung der Selbstvertretung und Datenerhebung zu Diskriminierungsrisiken
In Deutschland lebten 2017 rund 6,5 Millionen Frauen und Mädchen mit Behinderungen. Dies entspricht etwa 15 % der weiblichen Bevölkerung. Davon lebten ca. 80.000 in Wohneinrichtungen. Frauen und Mädchen mit Behinderungen sind in Deutschland Stigmatisierungen und mehrfacher Diskriminierung ausgesetzt: Unter anderem werden sie in ihren sexuellen und reproduktiven Rechten und in ihrem Recht auf Elternschaft eingeschränkt. Es fehlt eine flächendeckende barrierefreie gynäkologische Gesundheitsversorgung. Darüber hinaus sind Frauen und Mädchen vor allem in Einrichtungen einem erhöhten Risiko von Gewalterfahrungen ausgesetzt. Sie haben verringerte Chancen auf einen Zugang zum inklusiven Arbeitsmarkt, arbeiten häufiger in Teilzeit und unterliegen einem erhöhten Armutsrisiko.
Die politischen Interessenvertretungen von Frauen und Mädchen mit Behinderungen weisen regelmäßig auf Diskriminierungsrisiken hin und setzen sich dafür ein, deren Lebenssituation zu verbessern. Die meisten von ihnen werden nur auf Projektbasis und damit befristet gefördert, so zum Beispiel Weibernetz e. V.. Dies erschwert ein kontinuierliches Arbeiten an den Themen und bindet viele personelle Kapazitäten für die Antragsstellung zukünftiger Projektphasen.
Die Bundesregierung räumt selbst ein, dass der gesetzliche Auftrag an öffentliche Stellen, bestehende Benachteiligungen von Frauen mit Behinderungen zu beseitigen, ins Leere läuft, wenn nicht gleichzeitig mehr zu ihren besonderen Belangen und Diskriminierungsrisiken geforscht wird. Es fehlen menschenrechtsbasierte Daten und Studien zu unterschiedlichen Bereichen besonderer Gefährdung – unter anderem zu Barrieren bei der gesundheitlichen Versorgung, zum Selbstbestimmungsrecht bei der Familienplanung und zum tatsächlichen Vorhandensein von Angeboten der Elternassistenz und Eltern-Kind-Wohnangeboten oder zu Diskriminierungserfahrungen von Frauen mit Behinderungen, auch derjenigen, die von Rassismus betroffen sind.
Die bisherigen staatlichen Maßnahmen reichen nicht aus, um Frauen und Mädchen mit Behinderungen konsequent und systematisch zu empowern. Insbesondere mangelt es an einer dauerhaften verlässlichen Förderung der politischen Interessenvertretungen auf Bundes- und Länderebene sowie an desaggregierten Daten nach Art der Beeinträchtigung und anderen Diskriminierungsmerkmalen, um die besonderen Lebenslagen und Diskriminierungsrisiken dieser Gruppe sichtbar zu machen.
Die Monitoring-Stelle regt an, dem Vertragsstaat zu empfehlen,
die Partizipation von Frauen mit Behinderungen an öffentlichen Entscheidungsprozessen aktiv zu fördern, indem Selbstvertretungsorganisationen und Netzwerke von Frauen mit Behinderungen dauerhaft und langfristig staatlich finanziert werden;
zur Stärkung ihrer Autonomie die gesetzlich vorgesehenen „Übungen zur Stärkung des Selbstbewusstseins“ behinderter Mädchen und Frauen im Rehabilitationssport (§ 64 Abs. 1 Nr. 3 SGB IX) durch ein bundesweit flächendeckendes Leistungsangebot sicherzustellen;
unter Einbeziehung von Selbstvertretungsorganisationen Daten zu Stigmatisierung, Bereichen besonderer Gefährdung und Diskriminierungserfahrungen von Frauen mit Behinderungen menschenrechtsbasiert zu erheben und dabei nach Art der Beeinträchtigung sowie anderen intersektionalen Merkmalen zu desaggregieren;
die Rechte von Frauen mit Behinderungen in der Behindertenpolitik und in der Frauen- beziehungsweise Gleichstellungspolitik zu berücksichtigen sowie in den Aktionsplänen zur Umsetzung der UN-BRK und frauenpolitischen Programmen Maßnahmen in Bereichen besonderer Gefährdung aufzunehmen.
Artikel 7: Kinder mit Behinderungen
Inklusive Kinder- und Jugendhilfe
Das Unterstützungssystem für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen ist heute zweigeteilt: Behinderungsbezogene Leistungen für Kinder mit körperlichen, intellektuellen oder komplexen Beeinträchtigungen werden über die Eingliederungshilfe (SGB IX), die für Kinder mit psychosozialen Beeinträchtigungen über die Kinder- und Jugendhilfe finanziert (SGB VIII). Ab dem 01.01.2028 soll die Kinder- und Jugendhilfe als umfassendes Leistungsgesetz für alle Kinder und Jugendlichen inklusiv ausgestaltet werden. Das im Juni 2021 in Kraft getretene Kinder- und Jugendstärkungsgesetz enthält erste entsprechende Änderungen, unter anderem die Einführung von Verfahrenslotsen für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen und ihre Eltern ab 2024. Für eine inklusive Ausgestaltung der Kinder- und Jugendhilfe bedarf es darüber hinaus multidisziplinärer Fachkompetenzen und eines Bewusstseins für die Belange und Leistungsansprüche behinderter Kinder und Jugendlicher. Inwieweit eine entsprechende Weiterbildung der relevanten Akteure wie zum Beispiel der Familiengerichte und Jugendämter vorgesehen ist, ist zurzeit unklar.
Kinder- und Jugendliche mit Behinderungen müssen gleichberechtigt mit anderen Kindern Zugang zu allen allgemeinen staatlichen Leistungen erhalten, ohne ihren Anspruch auf behinderungsbezogene Leistungen zu verlieren. Neben den gesetzlichen Änderungen müssen hierfür praktische Umsetzungsschritte vorgenommen und Ressourcen bereitgestellt werden. Die Selbstvertretungsorganisationen von Menschen mit Behinderungen, insbesondere Kindern und Jugendlichen, sollten im Reformprozess verstärkt aktiv beteiligt werden.
Die Monitoring-Stelle regt an, dem Vertragsstaat zu empfehlen,
im Rahmen des SGB-VIII-Reformprozesses Selbstvertretungsorganisationen zu beteiligen, um die angemessene Bereitstellung behinderungsbezogener und allgemeiner Leistungen für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen sicherzustellen;
Angebote zu schaffen, die die Fachkräfte in der Verwaltung und Praxis der Kinder- und Jugendhilfe hinsichtlich der Bedarfe von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen sensibilisieren und qualifizieren.
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