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Monitoring-Stelle UN-BRK - Parallelbericht (1)

Aktualisiert: 10. Feb.

Zusammenfassung

2015 hat der UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen Deutschland das erste Mal auf die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) überprüft. Seither gibt es einige Fortschritte zu verzeichnen. Beispiele sind die verabschiedeten Aktionspläne zur Umsetzung der UN-BRK, die Durchführung eines Disability Survey sowie Reformen im Sozialrecht, Gleichstellungsrecht, Betreuungsrecht und Wahlrecht.


Die Dynamik der Umsetzung hat jedoch in Bund, Ländern und Kommunen inzwischen deutlich nachgelassen und in der Abwägung unterschiedlicher politischer Prioritäten hat die Konvention spürbar an Gewicht verloren. Ein echter Paradigmenwechsel in Politik und Gesellschaft hin zu Inklusion und Selbstbestimmung ist auch 14 Jahre nach Inkrafttreten der UN-BRK nicht festzustellen. Im Gegenteil: In Deutschland besteht weiterhin ein stark ausgebautes System von Sonderstrukturen – sowohl in der schulischen Bildung und bei der Beschäftigung in Werkstätten als auch in Form von großen stationären Wohneinrichtungen. Zwar wird viel über Inklusion diskutiert, konsequent in die Tat umgesetzt wird sie allerdings nicht.


Mit Sorge beobachtet die Monitoring-Stelle in diesem Zusammenhang eine fehlgeleitete Inklusionsrhetorik, wonach unterschiedliche Akteure aus Politik und Gesellschaft Sonderstrukturen als Teil eines inklusiven Systems bezeichnen. Doppelstrukturen werden flächendeckend und im Kern unverändert beibehalten (Artikel 24: Anforderungen an ein inklusives Schulsystem; Artikel 27: berufliche Bildung, Beschäftigung in Werkstätten; Artikel 19: Deinstitutionalisierung). Die ent- sprechenden Empfehlungen des Ausschusses von 2015, Sondersysteme schrittweise abzubauen, wurden allenfalls ansatzweise aufgegriffen und zum Teil sogar negiert. Dies zeigt, dass die UN- BRK und ihre Vorgaben nicht durchgehend menschenrechtskonform interpretiert werden. Im Ergebnis bauen nur wenige Bundesländer systematisch ein inklusives Schulsystem für alle Kinder mit Behinderungen auf. re Zahl der Werkstatt­beschäftigten ist gleichbleibend hoch und vor allem für Menschen mit intellektuellen und mehrfachen Beeinträchtigungen gibt es kaum ambulante Wohnmöglichkeiten.


Ein weiteres Problem besteht darin, dass in vielen Bereichen Menschen mit Behinderungen und ihre Bedarfe nach wie vor kaum oder gar nicht mit­­­ gedacht werden. Es fehlt ein durchgängiges Bewuss­tsein für Barrierefreiheit als Grundvoraussetzung einer gleichberechtigten Teilhabe. Probleme, wie etwa fehlende diskriminierungsrecht­liche Verpflichtungen zu Barrierefreiheit im privaten Sektor, sind zwar seit langem bekannt, werden aber politisch nicht bearbeitet (Artikel 5: gesetz­licher Diskriminierungsschutz). Hier fehlt es an der notwendigen menschenrechtlich gebotenen politischen Priorisierung.


Des Weiteren ist das Umsetzungshandeln nicht konsequent am Prinzip der Selbstbestimmung orientiert. In der psychiatrischen Versorgung fehlt weiterhin der menschenrechtliche Ansatz (Artikel 14 und 15: Anwendung von Zwang auf Basis einer Beeinträchtigung). Die Unterstützte Entscheidungsfindung ist kaum bekannt und wird nicht systematisch realisiert (Artikel 12: Betreuungs- recht); Menschen mit Behinderungen sind noch nicht wirksam vor Gewalt und Missbrauch geschützt (Artikel 16: Gewaltschutz) und Frauen mit Behinderungen können häufig nicht selbstbestimmt über Verhütung und Elternschaft entscheiden (Artikel 17: reproduktive Rechte von Frauen mit Behinderungen). Noch immer herrschen Denkmuster vor, die am medizinischen Modell von Behinderung orientiert sind. Das zeigt sich unter anderem in der Gesundheitspolitik (Artikel 4: Pränataldiagnostik; Artikel 10: pandemiebedingte Triage; Artikel 25: häusliche Intensivpflege).


Die Partizipation von Menschen mit Behinderungen und ihren Organisationen findet zwar regelmäßig statt, aber nicht immer in geeigneten und sinn­ stiftenden Formaten und auch nicht in allen Politikbereichen (Artikel 4: Partizipation; Artikel 29: haupt- und ehrenamtliche politische Tätigkeit). In Partizipationsprozessen werden die Stimmen von Selbstvertreter*innen oft nicht vorrangig gehört.


In der Gesamtschau bleibt – wie schon im Parallelbericht zur ersten Staatenprüfung 2015 – festzustellen, dass der Vertragsstaat bei Weitem nicht alles Notwendige und Mögliche unternimmt, um die Konvention umzusetzen. Die verfügbaren Mittel im Sinne von Artikel 4 Absatz 2 UN-BRK wurden und werden nicht ausgeschöpft.


Erneut vermisst die Monitoring-Stelle in den Berichten des Vertragsstaats im laufenden Prüfverfahren eine selbstkritische und vertiefte Auseinandersetzung mit bestehenden Problemen und Umsetzungsdefiziten.


Umso mehr bedarf es aktueller, nachdrücklicher Impulse durch den Ausschuss, um der Umsetzung der Konvention in Deutschland neue Kraft zu verleihen und die richtige Richtung zu geben.


Artikel 4: Allgemeine Verpflichtungen

Partizipation

Eine angemessene Partizipation von Menschen mit Behinderungen und ihren Organisationen findet weder auf allen politischen Ebenen statt noch in allen Zuständigkeitsbereichen.


Auf Bundesebene gab es vereinzelt gute Ansätze und neue Formate, etwa der vom Bundesjustizministerium gesteuerte Prozess im Vorfeld der jüngsten Reform des Betreuungsrechts sowie anfänglich die Erarbeitung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) ab 2014. Jedoch wurde bei Letzterem nicht transparent begründet, warum viele Ergebnisse des Beteiligungsverfahrens nicht in die im Jahr 2016 vorgelegten Gesetzentwürfe eingingen. Auch bei der Fortschreibung des Nationalen Aktionsplans zur UN-BRK ist eine wirksame Partizipation aktuell nicht mehr gewährleistet. Ein Dis- ability Mainstreaming ist in den Ressorts der Bundesregierung kaum zu erkennen, dies fiel zuletzt besonders im Bereich der Gesundheitspolitik auf. An gesundheitspolitischen Verordnungen zu Schutz und Sicherheit während der Corona-Pandemie wurden – trotz teilweise gravierender menschenrechtlicher Folgen für Menschen mit Behinderungen – ihre Verbände kaum oder nur unter erschwerten Bedingungen, nach starkem Drängen und oft mit sehr kurzen Fristen beteiligt.


Selbstvertretungsorganisationen von Menschen mit Behinderungen verfügen für ihre Tätigkeiten nur über geringe Ressourcen. Sie arbeiten oft ehrenamtlich und es fehlen ihnen angemessene Rahmenbedingungen für eine Beteiligung. Weder erleichtert ihnen die Verwaltung durch barrierefreie Formate und angemessene Fristen eine Beteiligung noch erhalten Personen, die sich ehrenamtlich politisch engagieren, die nötige Assistenz.


Die Nutzung des Partizipationsfonds auf Bundesebene wird durch bürokratische Hürden wie Antrags- und Abrechnungsformalitäten erschwert und erlaubt bisher keine langfristige Unterstützung von Selbstvertretungsstrukturen abseits von Projekten.


Die Beteiligung von Menschen mit Behinderungen und ihren Organisationen an politischen Prozessen wird den Maßstäben der Konvention weiterhin nicht gerecht. Die Bereitschaft, politische Verfahren partizipativ zu gestalten, ist unterschiedlich stark ausgeprägt und es fehlt ein flächendeckendes Bewusstsein für den Umfang des Partizipationsgebots der UN-BRK. Stimmen von Selbstvertreter*innen werden nicht prioritär gehört, auch gelingt es nur selten, Menschen mit Behinderungen in ihrer Vielfalt anzusprechen. So werden insbesondere Kinder mit Behinderungen und Menschen mit Behinderungen in vulnerablen Lebenslagen weiterhin kaum beteiligt.


Die Monitoring-Stelle regt an, dem Vertragsstaat zu empfehlen,

  • der Beteiligung von Selbstvertretungsorganisationen bei der Erarbeitung politischer Programme sowie in Gesetzgebungs- und anderen Normsetzungs­verfahren einen angemessenen Stellenwert einzuräumen, neue barrierefreie Formate zu erproben und für eine sinnhafte Beteiligung ausreichend lange Fristen anzusetzen;

  • in allen Geschäftsbereichen ein effektives Disability Mainstreaming sicherzustellen, indem verwaltungsinterne Leitlinien zur konsequenten Einbeziehung von Menschen mit Behinderungen entwickelt beziehungsweise überarbeitet werden;

  • Selbstvertretungsorganisationen auf dauerhafter Basis zu fördern und angemessen auszustatten;

  • die Selbstvertretung von Kindern und Jugend­lichen mit Behinderungen in allen Bereichen und auf kommunaler, Länder- und Bundesebene zu stärken. Dazu gehört auch die Un­ter­stützung der Gründung entsprechender Organisationen.


Normenprüfung

Eine systematische und umfassende Überprüfung neuer und bestehender Rechtsvorschriften im Lichte der UN-BRK findet weder auf Bundes- noch auf Länderebene statt. Es fehlen gesetzliche Grundlagen, die eine Überprüfung vorschreiben, Prüfraster, anhand derer die Vereinbarkeit von Gesetzen mit der Konvention kontrolliert werden kann, und wirksame Regelungen, wie Prüfergebnisse berücksichtigt werden sollen. Auf Länderebene existieren lediglich vereinzelt Vorgaben zur Überprüfung von neuen gesetzlichen Vorschriften, etwa in Hessen, NRW, Sachsen-Anhalt und Berlin.


Bei der Überprüfung des bestehenden Rechts mangelt es nach wie vor an Konzepten, die Fristen und andere Vorgaben zur Umsetzung der Ergebnisse der Normenprüfung enthalten. Nur drei Länder haben systematische Normenprüfungsprozesse durchgeführt. In der Folge stehen sowohl bestehende als auch neue Gesetze weiterhin oft nicht mit dem Übereinkommen in Einklang.


Die Bemühungen des Vertragsstaats, bestehende und neue Rechtsnormen auf Vereinbarkeit mit der Konvention zu überprüfen, bleiben weiterhin deutlich hinter Artikel 4 Absatz 1 Buchstaben a, b UN-BRK zurück und zeigen, dass die Bedeutung und Tragweite der Rechte von Menschen mit Behinderungen auf der normativen Ebene nach wie vor nicht ausreichend berücksichtigt werden.


Die Monitoring-Stelle regt an, dem Vertragsstaat zu empfehlen,

  • gesetzlich zu verankern, dass bestehendes und künftiges Bundes- und Landesrecht standardmäßig und verpflichtend am Maßstab der UN-BRK zu überprüfen ist, und hierfür ein Konzept inklusive Zeitrahmen und Normenprüfraster zu entwickeln;

  • die Ergebnisse der durchgeführten Normenprüfung zeitnah umzusetzen und die innerstaatlichen Rechtsvorschriften mit dem Übereinkommen in Einklang zu bringen.


Unterlassen der Förderung schädlicher Entwicklung für das gesellschaftliche Bewusstsein / Pränatal- Diagnostik

Seit Juli 2022 ist der nicht-invasive Pränatal-Test (NIPT) auf Chromosomen-Abweichungen eine Kassenleistung. Mit ihm wird mit einer Blutprobe eine Wahrscheinlichkeit für Trisomie 13, 18 und 21 in der Schwangerschaft ermittelt. Das Ergebnis ist keine Diagnose, sondern lediglich eine – sehr ungenaue – Wahrscheinlichkeitsangabe. Seit Einführung des NIPT als Kassenleistung haben Schwangerschaftsabbrüche deutlich zugenommen. Gleichzeitig ist eine Zunahme von invasiven Pränatal-Tests zu verzeichnen – diese sollten durch den NIPT eigentlich vermieden werden, dienen aber zur Abklärung etwaiger falsch-positiver Anzeigen. Die bisherigen Entwicklungen in der Praxis deuten darauf hin, dass der NIPT wie ein Regelverfahren angewendet wird und mehr invasive Tests nach sich zieht.


Durch die Kostenübernahme des NIPT als Regelleistung der Krankenkassen besteht die Gefahr eines wachsenden gesellschaftlichen Drucks, Kinder mit Trisomie abzutreiben. Eine angemessene gesellschaftliche und politische Debatte zu den im Hinblick auf Artikel 8 UN-BRK höchst problematischen Implikationen des Verfahrens wurde nicht geführt. Weitere Pränatal-Tests für unterschiedliche Gendefekte und Erkrankungen befinden sich bereits in der Entwicklung. Dies führt zu einer Erstarkung des medizinischen Modells von Behinderung und ist Ausdruck dessen, dass Beeinträchtigungen als unvereinbar mit einem guten Leben gesehen werden.


Die Monitoring-Stelle regt an, dem Vertragsstaat zu empfehlen,

  • ein umfassendes Monitoring zur Umsetzung und zu den Folgen der Kassenzulassung von NIPT einzuführen;

  • die gesellschaftlichen, ethischen und rechtlichen Implikationen der Kassenzulassung des NIPT durch ein interdisziplinäres und mit Selbstvertreter*innen behinderter Menschen besetztes Expert*innen­gremium prüfen zu lassen;

  • bis zur Regelung der ethischen Herausforderungen Zulassungsstopps für weitere pränatale Testverfahren zu erlassen.

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