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Monitoring-Stelle UN-BRK - Parallelbericht (4)

Aktualisiert: 30. März

Artikel 14/15: Freiheit und Sicherheit der Person / Freiheit von Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe

Anwendung von Zwang auf Basis einer Beeinträchtigung

Menschen mit Behinderungen können in Deutschland Zwang in Form einer unfreiwilligen Behandlung oder Unterbringung sowie in Form von freiheitsentziehenden Maßnahmen (FEM) ausgesetzt sein. Grundlage bilden dabei das Betreuungsrecht, die psychiatrischen Ländergesetze und der Maßregelvollzug. 2016 hat das Bundesverfassungsgericht Zwang als Ultima Ratio legitimiert. Aktuell besteht das Risiko, dass bei der Evaluierung der Vorgaben für ärztliche Zwangsmaßnahmen im Rahmen des Betreuungsrechts (§1832 BGB) ambulante Zwangsmaßnahmen erlaubt werden.

Bestehende gesetzliche Sicherungen für das Selbstbestimmungsrecht behinderter Menschen werden in der Praxis nicht ausreichend genutzt. Im psychiatrischen Kontext variiert die Anwendung von Zwang in den einzelnen Einrichtungen extrem. In Einrichtungen der Pflege und Eingliederungshilfe können rechtliche Betreuer*innen, die häufig nicht vor Ort sind und keinen Einblick in die Situation haben, nach einer gerichtlichen Genehmigung freiheitsentziehenden Maßnahmen zustimmen. Im Strafrecht führt ein bei Schuldunfähigkeit angeordneter sogenannter Maßregelvollzug häufig zu wesentlich längerem Freiheitsentzug als im regulären Strafvollzug. Freiheitsentziehende Maßnahmen gegenüber Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen werden häufig als therapeutisch notwendig deklariert, um so die gesetzlich erforderliche Genehmigung bei Vorliegen einer Behinderung zu umgehen. Somit bestehen für den Schutz der Freiheitsrechte von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen schwächere Vorgaben als für Kinder und Jugend­liche ohne Behinderungen und Erwachsene mit Behinderungen.


Die Versorgung für Menschen mit psychosozialen Behinderungen und Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf ist institutionell angelegt und häufig mit einem Aufenthalt in einer Einrichtung fernab vom eigenen Wohnort verbunden. Es fehlt an wohnortnahen, ambulanten psychosozialen Angeboten und Krisenhilfen, insbesondere für Menschen mit komplexeren Problemlagen und langfristigen Beeinträchtigungen. Alternative Behandlungsformen zur Zwangsvermeidung werden nur modellhaft umgesetzt und nicht flächendeckend angewendet. Erschwert wird die Situation durch den massiven Fachkräftemangel sowohl bei stationären als auch ambulanten psychosozialen Angeboten. Es mangelt an Daten zur Anwendung von Zwang auf Basis der unterschiedlichen gesetzlichen Grundlagen in den verschiedenen Unterstützungssettings.


Trotz gesetzlicher Nachschärfungen und der modellhaften Erprobung alternativer Ansätze werden unfreiwillige Behandlungen und Unterbringungen sowie freiheitsentziehende Maßnahmen auf Grundlage von Spezialgesetzen weiterhin legitimiert. Die lückenhafte Datenlage erschwert eine umfassende Identifizierung besonders schwerer Rechtsverletzungen und der Zusammenhänge mit strukturellen Problemen, etwa dem Mangel an Fachkräften und wohnortnahen Angeboten.


Die Monitoring-Stelle regt an, dem Vertragsstaat zu empfehlen,

  • die gesetzlichen Vorgaben für die Anwendung von Zwang und Freiheitsentzug entlang der menschenrechtlichen Vorgaben der UN-BRK zu reformieren beziehungsweise zu streichen; etwa im Rahmen der aktuellen Evaluierungen des § 1631b Abs. 2 BGB und des § 1832 BGB;

  • rechtebasierte, wohnortnahe und personenzentrierte Unterstützungsangebote auszubauen und mit ausreichenden Ressourcen auszustatten;

  • die Anwendung von Zwang differenziert (nach Art, gesetzlicher Grundlage, Ort der Anwendung, Dauer etc.) zu erheben und bundesweit zusammenzufassen;

  • die Vermeidung und Beendigung von Zwang in Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen (Psychiatrie, Eingliederungshilfe, Kinder- und Jugendhilfe) als normative Anforderung und strategisches Ziel für Politik und die Praxis der Leistungsgewährung zu definieren.



Artikel 16: Schutz vor Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch

Gewaltschutz

Menschen mit Behinderungen sind in Deutschland stark von Gewalt betroffen. Besonders gefähr­­­det sind sie in Einrichtungen sowie bei der Inanspruchnahme von Unterstützung und Pflege. Gewalterfahrungen umfassen psychische, sexualisierte und körperliche Gewalt sowie strukturelle Gewalt durch Abhängigkeitsverhältnisse, unrechtmäßige freiheitsentziehende Maßnahmen oder unfreiwillige Verhütung.


In den letzten Jahren hat es gesetzliche Fortschritte beim Gewaltschutz gegeben. Hierunter fallen insbesondere die Verpflichtung aller Leistungserbringer, Gewaltschutzkonzepte zu entwickeln (§ 37a SGB IX) und die Einführung von Frauenbeauftragten in Werkstätten für Menschen mit Behinderungen (§ 222 SGB IX).


Allerdings bestehen weiterhin große Lücken und Probleme: Von vielen Akteuren in Politik und Praxis wird das Thema Gewaltschutz nicht ernst genug genommen. Die Leistungserbringung ist nicht hinreichend an Selbstbestimmung, dem Schutz der Würde und dem menschenrechtlichen Modell von Behinderung orientiert. Gewaltschutzkonzepte existieren weder flächendeckend noch mit einheitlichen Qualitätsstandards und werden auch nicht immer umgesetzt. Die im Staatenbericht erwähnten Bund-Länder-Gespräche zum Gewaltschutz wurden in den letzten Jahren nicht fortgeführt. Eine ressortübergreifende, politische Strategie gegen Gewalt, die auch die Länder in ihrer Zuständigkeit einbezieht, fehlt nach wie vor.


Notwendige politische Maßnahmen zum Gewaltschutz sind zwar bekannt, werden jedoch nicht umgesetzt. Dies umfasst unter anderem die Einsetzung von unabhängigen Überwachungsorganen mit menschenrechtlichem Mandat gemäß Artikel 16 Absatz 3 UN-BRK, eine bedarfsdeckende Versorgung mit barrierefrei zugänglichen Frauenhäu­sern und Frauennotrufen, die flächendeckende Schulung von Polizei und Justiz zu den Bedarfen von behinderten Opfern und Zeug*innen für ein barrierefreies Strafverfahren, die Sicherstellung der Anwendbarkeit des Gewaltschutz­gesetzes in Einrichtungen zur Trennung von Opfer und Täter*innen sowie die Einsetzung von Frauenbeauftragten in Wohneinrichtungen.


Trotz einiger gesetzlicher Verbesserungen wird die Schutzpflicht des Staates, die Leistungserbringung in der Praxis wirksam an die grund- und menschenrechtlichen Vorgaben zu knüpfen, nicht hinreichend erfüllt. Der Gewaltprävention muss in Politik und Praxis ein prioritärer Stellenwert gegeben werden.


Die Monitoring-Stelle regt an, dem Vertragsstaat zu empfehlen,

  • einen vom Bund gesteuerten Diskussionsprozess mit den Ländern, Kommunen und Leistungserbringern und unter Beteiligung der Selbstvertretungsorganisationen zu starten und zu verstetigen und im Rahmen dessen Maßnahmen für eine nationale Gewaltschutzstrategie für Menschen mit Behin­de­rungen zu verabschieden;

  • die Verpflichtung zu Gewaltschutzkonzepten in Einrichtungen und Dienstleistungen (§ 37a SGB IX) auf ihre Praxiswirksamkeit hin zu evaluieren und gegebenenfalls gesetzgeberisch nachzusteuern, um sicherzustellen, dass Gewaltschutz ein ständiges Thema der Organisationsentwicklung in der Leistungs­erbringung bleibt;

  • gesetzlich sicherzustellen, dass die Ausbildung von Fachkräften der Eingliederungshilfe nach einem menschenrechtsbasierten Leitbild erfolgt, in Anschluss an die Empfehlungen der Studie zur „Transformation von Dienstleistungen für Menschen mit Behinderungen“ des UN-Sonderberichterstatters für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-Dok. A/HRC/52/32).



Artikel 17: Schutz der Unversehrtheit der Person

Reproduktive Rechte von Frauen mit Behinderungen

In Deutschland werden Frauen mit Behinderungen mehr als achtmal häufiger sterilisiert als Frauen insgesamt. Besonders betroffen sind Frauen mit intellektuellen Beeinträchtigungen. Um Frauen zur Einwilligung in die Sterilisation zu bewegen, werden in Wohneinrichtungen teilweise Informationen vorenthalten, Frauen falsch informiert oder emotionalem Druck ausgesetzt. Seit 01.01.2023 ist eine Reform in Kraft, die Sterilisationen von als einwilligungsunfähig kategorisierten Menschen zwar nicht gänzlich verbietet, aber vorgibt, dass sie dem „natürlichen“ Willen der betroffenen Person entsprechen muss. Die Bundesregierung hat eine Studie angekündigt, die die gerichtliche Bewilligungspraxis untersuchen soll. Es bleibt abzuwarten, ob die Reform dazu führt, dass keine Sterilisationen mehr ohne die freie und informierte Zustimmung stattfinden.


Eine weitere häufige Praxis, um Schwangerschaften bei Frauen mit intellektuellen Beeinträchtigungen zu verhindern, ist die Dreimonats- be­­ziehungsweise Depotspritze zur hormonellen Verhütung. Laut einer Umfrage haben ein Drittel der Frauen in stationären Einrichtungen, die nicht sterilisiert worden sind, schon eine solche Injektion erhalten. Im Vergleich dazu werden diese Spritzen wegen der starken Nebenwirkungen all- gemein nur bei einem Prozent der Frauen und nur über einen kurzen Zeitraum angewandt.

Erfahrungsberichte deuten zudem darauf hin, dass in Wohneinrichtungen der Eingliederungshilfe Abtreibungen ohne freie und informierte Zustimmung durchgeführt werden. Unklar ist, inwieweit auf schwangere Frauen mit Behinderungen Druck ausgeübt wird abzutreiben. Es gibt bisher keine Daten und Informationen darüber, in welchem Umfang dies geschieht.


Es mangelt darüber hinaus an flächendeckenden Strukturen, um die Elternschaft von Menschen mit Behinderungen zu ermöglichen und zu unterstützen. So fehlen ambulante Eltern-Kind- Wohnangebote der Eingliederungshilfe sowie Angebote der Begleiteten Elternschaft und Eltern- Assistenz nach § 78 Abs. 3 SGB IX.


Die Gewährleistung der sexuellen und reproduktiven Rechte von Frauen mit Behinderungen ist derzeit nicht sichergestellt. Hinweise auf Schwangerschaftsverhütung und -abbrüche ohne freie und informierte Zustimmung sind besorgniserregend. Eine Aufklärung über das Recht auf Elternschaft gemäß Artikel 23 UN-BRK findet nicht durchgängig statt und es fehlen entsprechende Unterstützungsangebote.


Die Monitoring-Stelle regt an, dem Vertragsstaat zu empfehlen,

  • Studien zum Ausmaß von Verhütung und Abtreibung ohne freie und informierte Zustimmung in Einrichtungen der Eingliederungshilfe durchzuführen, dies betrifft auch die Anwendung der neuen gesetzlichen Regelung zur Sterilisation;

  • das Recht von Frauen mit Behinderungen zu stärken, selbstbestimmt über Familienplanung zu entscheiden, unter anderem durch barrierefreie Aufklärung und Information und indem entsprechende Wohn- und Unterstützungsangebote vorgehalten werden;

  • sicherzustellen, dass jede Form von Verhütung nur mit informierter und freiwilliger Zustimmung und ohne Druck erfolgt; hierfür sollen Fachkräfte in Einrichtungen, Ärzt*innen und Mitarbeitende von Beratungsstellen geschult und für die reproduktiven Rechte von Frauen mit Behinderungen sensibilisiert werden.



Artikel 18: Freizügigkeit und Staatsangehörigkeit

Identifizierung, Unterbringung, Versorgung von geflüchteten Menschen mit Behinderungen

In Deutschland fehlt es nach wie vor an einer flächendeckenden Umsetzung der menschen- und europarechtlichen Vorgaben zur Identifizierung und bedarfsgerechten Unterbringung von geflüchteten Menschen mit Behinderungen, wie der EU- Aufnahmerichtlinie. Der Bundesgesetzgeber sieht die Länder dafür zuständig, die Identifizierungen im Rahmen der Unterbringung vorzunehmen. Im Ergebnis geschieht dies jedoch uneinheitlich und in allen Bundesländern unzureichend. Vor allem nicht sichtbare Formen von Beeinträchtigungen, wie etwa intellektuelle Beeinträchtigungen und chronische Erkrankungen, werden regelmäßig übersehen und die entsprechenden Bedarfe daher nicht erkannt.


Unterkünfte sind selten barrierefrei, weder für mobilitätseingeschränkte Personen noch für Menschen mit anderen Beeinträchtigungen. Außerdem liegen die Unterkünfte oft dezentral und sind schlecht an die Infrastruktur angebunden, sodass Teilhabemöglichkeiten reduziert und behinderungsspezifische Unterstützungsangebote und Gesundheitsdienstleistungen schwer zu erreichen sind.

Seit Jahren gibt es im Asylverfahren große Probleme bei der medizinischen Versorgung geflüchteter Menschen mit Behinderungen; diese ist auf akute Erkrankungen und Schmerzzustände beschränkt. Weitergehende Bedarfe liegen im Ermessen der Behörden und werden nur gewährt, wenn sie „im Einzelfall zur Sicherung des Lebens- unterhalts oder der Gesundheit unerlässlich sind“. Die behinderungsbedingt erforderliche Versorgung mit zum Beispiel Therapien oder Hilfsmitteln bleibt damit häufig aus, was zu dauerhaften gesundheitlichen Beeinträchtigungen führen kann.

Die strukturellen Probleme, denen geflüchtete Menschen mit Behinderungen in Deutschland gegenüberstehen, sind lange bekannt. Aktuell treffen sie vor allem Schutzsuchende aus der Ukraine. Bund und Länder müssen den menschen- und europarechtlichen Anforderungen an die Identifizierung, Unterbringung und Versorgung von geflüchteten Menschen mit Behinderungen aller Nationalitäten endlich gerecht werden.


Die Monitoring-Stelle regt an, dem Vertragsstaat zu empfehlen,

  • in Bund und Ländern gesetzliche Regelungen zu schaffen, wie Menschen mit Behinderungen systematisch identifiziert und behinderungsbedingte Bedarfe festgestellt werden;

  • in Ländern und Kommunen eine ausreichende Anzahl an barrierefreien Plätzen in Erstaufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften zur Verfügung zu stellen und die Unterkünfte, die der geltenden DIN-Norm für das barrierefreie Bauen ent- sprechen müssen, an das behinderungsspezifische Unterstützungssystem anzubinden;

  • die Regelversorgung von Geflüchteten mit Behinderungen mit Gesundheits- und Rehabilitationsleistungen von Anfang an im allgemeinen Sozialleistungssystem gesetzlich zu gewährleisten.

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