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BTHG: Sozialraumorientierung (3/3)

Teil III: Fünf richtungsweisende Bedingungen für künftige sozialraumorientierte Praxis


I. Einleitung

Die ersten beiden Teile dieses Beitrags haben den theoretischen Rahmen der Sozialraumorientierung umrissen und die Begriffe Sozialraum bzw. Sozialraumorientierung, wie sie im SGB IX verwendet werden, analysiert. Dabei wurden Übereinstimmungen und Unterschiede in der intendierten Bedeutung identifiziert, die sich auf die daraus resultierenden Handlungsaufträge auswirken können. Dieser Abschnitt des Beitrags verdeutlicht abschließend, unter welchen Voraussetzungen die rechtlichen Regelungen als Grundlage dienen können, um Sozialraumorientierung gemäß dem hier vorgestellten Verständnis in der Eingliederungshilfe umzusetzen und somit die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen zu stärken.


II. Grundlagenqualifizierung

Mitarbeitende in der Eingliederungshilfe, sowohl bei Leistungsträgern als auch bei Leistungserbringern, müssen umfassende Kenntnisse über das Konzept der Sozialraumorientierung sowie dessen spezifische Anforderungen und Ausgestaltungen besitzen, um den Begriff in ihrer beruflichen Praxis fundiert umzusetzen. Weber betont die Notwendigkeit, dass Curricula in Ausbildungs- und Studiengängen im Bereich der Behindertenhilfe kontinuierlich weiterentwickelt und durchdacht werden sollten, insbesondere hinsichtlich der Methoden und Prinzipien sozialraumorientierter Arbeit. Diese Anforderung gilt ebenso für allgemeine Studiengänge der Sozialen Arbeit. Ziel dieser Ausbildung sollte nicht nur das Kennenlernen theoretischer Konzepte zum Sozialraum und zur Bedeutung der Umweltfaktoren für die Entwicklungspotenziale von Menschen sein, sondern auch die praktische Umsetzung durch begleitende Übungen und selbstkritische Reflexionen fördern. Studierende sollten dabei ihre eigene Haltung gegenüber den Zielgruppen der Sozialen Arbeit hinterfragen und den stärkenorientierten Ansatz der Sozialraumorientierung erlernen.


Dies ist besonders relevant für die Eingliederungshilfe, da hier traditionell ein eher defizitorientierter Blick in der Bedarfsermittlung dominiert. Die Vorstellung von Hilfen als unterstützende Fürsorge ist tief im System verwurzelt und prägt die aktuelle Angebotsgestaltung. Eine solide Qualifizierung im Bereich der Sozialraumorientierung, einschließlich systemkritischen Wissens, kann langfristig Veränderungen in der Praxis anstoßen. Sie bildet die Grundlage dafür, dass Fachkräfte sich nicht nur den strukturellen Veränderungen, wie sie durch das Bundesteilhabegesetz (BTHG) angestoßen werden, anpassen müssen, sondern aktiv mit den Perspektiven ihrer Klientinnen und Klienten politische Diskurse gestalten und die tägliche Praxis mitgestalten können.


III. Theoretisch basierte reflexiv-kritische Praxistätigkeit

Es ist entscheidend, dass die Umsetzung der Grundlagenqualifizierung (Bedingung 1) gewährleistet, dass Sozialraumorientierung in der Praxis konsequent an theoretischen Grundlagen orientiert wird, diese reflektiert und im Alltag überprüft werden (Bedingung 2). Die theoretischen Rahmenbedingungen, die im ersten Teil dieses Beitrags eingeführt wurden, bieten grundsätzlich Orientierung und können je nach Ausrichtung der Organisation in konkrete Handlungsschritte umgesetzt werden. Basierend auf den Prinzipien des Fachkonzepts und den Grundsätzen von Röh und Meins können Kriterien entwickelt werden, anhand derer Fachkräfte kontinuierlich ihre sozialraumorientierte Haltung und Handlungsweise reflektieren können, unter Berücksichtigung der Perspektiven der Leistungsberechtigten.


Das SONI-Schema nach Früchtel, Cyprian und Budde bietet Organisationen mit seinen vier Handlungsfeldern eine Möglichkeit zur Reflexion. Es ermöglicht eine Zuordnung der regelmäßigen Aktivitäten zu diesen Feldern und gibt Aufschluss darüber, ob alle vier Bereiche in der Praxis adäquat berücksichtigt werden oder ob bestimmte Felder zukünftig verstärkt gefördert werden sollten. In den kommenden Jahren wird zu prüfen sein, welches der theoretischen Modelle sich für die Eingliederungshilfe als am geeignetsten erweist und den Organisationen die besten Orientierungshilfen bietet.


Von besonderer Bedeutung sind jedoch vor allem zwei Kompetenzen der Fachkräfte für eine erfolgreiche Sozialraumorientierung, basierend auf den genannten theoretischen Konzepten:


  1. Die Fähigkeit, gemeinsam mit einer Person ihr Inneres zu erforschen und zu verstehen, ihre Stärken zu beschreiben und in Maßnahmen umzusetzen, die eine selbstbestimmte Lebensführung ermöglichen, ohne sie zu überfordern.

  2. Die Fähigkeit, sich für die Veränderung der äußeren Bedingungen einzusetzen, ihre Bedeutung für die Chancen der einzelnen Person anzuerkennen und aktiv an der Schaffung und Förderung von inklusiven Räumen mitzuwirken.


IV. Wille auf Seiten der Fachkräfte

Für die Umsetzung von Sozialraumorientierung in der Eingliederungshilfe sind neben einer theoretischen Grundlage auch der Wille der Fachkräfte erforderlich (entsprechend dem Prinzip der Orientierung an Interessen und Willen nach Hinte und Kollegen) (Bedingung 3). Es erfordert das Engagement, tatsächlich sozialraumorientiert zu arbeiten und die damit verbundenen Herausforderungen anzunehmen. Dies bedeutet, dass Fachkräfte bereit sein müssen, ihre professionelle Deutungshoheit teilweise zugunsten der Anerkennung der Perspektiven ihrer Klienten aufzugeben oder zumindest in einen Dialog darüber einzutreten. Die Interessen und individuellen Zielsetzungen der Klienten stimmen nicht immer mit den Vorstellungen der Fachkräfte darüber überein, was der beste Entwicklungsweg ist.


Es erfordert auch die Bereitschaft, die Eigeninitiative der Menschen tatsächlich zuzulassen und zu fördern, selbst wenn deren gewählter Weg von der Sichtweise der Fachkräfte abweicht. Dazu gehört der Wille, die Ressourcen der Menschen in den Mittelpunkt zu stellen und paternalistische Haltungen aufzugeben, zugunsten der Anerkennung ihrer Kompetenzen. Gerade in der Eingliederungshilfe ist dies herausfordernd, da der Zugang zu den Leistungen, wie im SGB IX definiert, oft den Fokus auf Defizite und Behinderungen lenkt, trotz des Bezugs zur ICF.


Es erfordert den Willen, lebendige Kooperationen zu gestalten, die über formelle Sitzungen hinausgehen, und die Devise sollte hier nicht lauten "viel hilft viel", sondern "Qualität vor Quantität". Adressaten profitieren besonders, wenn alle Beteiligten sich Zeit nehmen, relevante Aspekte der jeweiligen Sozialräume gemeinsam zu erforschen. Auf dieser Grundlage können zentrale Orte für die betreffende Person ermittelt werden, um dann auf Basis ausgewählter Kontakte zu sozialarbeits-spezifischen und -unspezifischen Organisationen die Teilhabe zu fördern.

V. Ermöglichender Rahmen der leistungserbringenden Organisation

Um die Anforderungen des BTHG auf der praktischen Ebene mit den Adressaten umzusetzen, sind Fachkräfte auch auf eine entsprechend ausgerichtete organisatorische Struktur angewiesen (Bedingung 4). Bestmann bemängelt, dass dem Fachkonzept der Sozialraumorientierung bisher eine übergeordnete Organisationsstrategie fehlt. Er nennt folgende Punkte als notwendig, damit Mitarbeiter die Sozialraumorientierung in der Praxis umsetzen können: Sie benötigen innerhalb ihrer Organisation einen Raum, um dies im täglichen Arbeitsalltag zu verwirklichen, statt lediglich in externen Schulungszentren auf zukünftige Umsetzungen vorbereitet zu werden. Die Organisation muss hierfür unterstützende Strukturen schaffen und offen für neue Entwicklungsprozesse sein, die das Verlassen standardisierter Routinen ermöglichen. Ein kontinuierlich angepasster und gemeinsamer Rahmen sowie flache und dezentrale Organisationsstrukturen sind erforderlich.


Zudem müssen Führungskräfte auf allen Ebenen – sowohl in den einzelnen Abteilungen als auch in der Geschäftsführung – über eine solide theoretische Grundlage zur Sozialraumorientierung verfügen (Bedingung 1: Grundlagenqualifizierung) und eine entsprechende fachliche Haltung entwickeln. Wenn Fachkräfte das Gefühl haben, dass sie innerhalb ihrer Organisation bereits an den Grundfesten für eine sozialraumorientierte Arbeitsweise kämpfen müssen, könnte ihre Motivation schnell schwinden.


VI. Flexibilität und das Engagement der Leistungsträger

Ob Organisationen und ihre Mitarbeiter den Anforderungen des BTHG gerecht werden können, hängt auch von der Positionierung der Leistungsträger ab, die im Planungsprozess eine zentralere Rolle einnehmen sollen, wie in diesem Beitrag beschrieben wird. Für Leistungsträger bedeutet dies vor allem, die Rahmenbedingungen für die Umsetzung der Sozialraumorientierung zu schaffen. Dazu gehört unter anderem die Prüfung von flexiblen Finanzierungsoptionen in Zusammenarbeit mit Organisationen und gegebenenfalls die Weiterentwicklung anhand evidenzbasierter Modellprojekte.


Es ist erforderlich, den Organisationen Planungssicherheit und Flexibilität zu bieten, um sowohl bereichsübergreifende als auch fallunspezifische Aktivitäten zu unterstützen, gleichzeitig aber die spezifischen Anforderungen der einzelnen Fälle an fachliche Begleitung zu gewährleisten (Bedingung 5). Dies erfordert länderspezifische Lösungen, die Netzwerkaktivitäten und Ressourcenerschließung im Gemeinwesen gezielt fördern, um inklusive Strukturen zu stärken und zu refinanzieren.


Wie im zweiten Teil dieses Beitrags ausgeführt, wurde in NRW mit dem neuen Leistungs- und Vergütungssystem für die Soziale Teilhabe für Volljährige eine erste Grundlage geschaffen. Die Einführung vergleichbarer Regelungen in anderen Bundesländern sowie die laufende Prüfung und Evaluation ihrer Wirksamkeit im Hinblick auf die Ziele der Sozialraumorientierung sind entscheidend für die erfolgreiche Umsetzung von fallunspezifischen und -übergreifenden Maßnahmen.


VII. Fazit

Eine zentrale und verbindende Komponente der beschriebenen Bedingungen ist die innere fachliche Haltung jeder beteiligten Person, die sich einem fundierten theoretischen Verständnis von Sozialraumorientierung verschrieben hat.[8] Dies stellt einen bedeutenden Anspruch dar, der zunächst in der Ausbildung von Fachkräften an Hochschulen durch kritische Fachdiskurse und entsprechende Übungen gefördert werden sollte (siehe Bedingung 1: Grundlagenqualifizierung). In der Praxis ist es dann entscheidend, diese Haltung aufrechtzuerhalten und kontinuierlich weiterzuentwickeln (siehe Bedingungen 2 bis 5).


Es ist wichtig zu beachten, dass nicht alle Mitarbeiter im Bereich der Eingliederungshilfe einen Hochschulabschluss haben. Daher gilt es in der Praxis, Personal mit unterschiedlichem Wissensstand und verschiedener fachlicher Expertise gegebenenfalls nachzuqualifizieren und Zugänge zu Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen zu ermöglichen. Insbesondere der ressourcenorientierte Blick, der sich auf die Stärken von Menschen konzentriert, muss oft bewusst erlernt werden.[9] Eine weitere Herausforderung besteht darin, zwischen Wünschen und Interessen zu unterscheiden, die zur Veränderung motivieren. Aufgrund langjähriger Berufserfahrung neigen Fachkräfte in der Eingliederungshilfe möglicherweise dazu anzunehmen, die Interessen ihrer Klienten bereits zu kennen, ohne eine umfassende Erkundung durchgeführt zu haben. Auch für Berufseinsteiger ist es anspruchsvoll, die Interessen einer Person herauszuarbeiten und angemessen zu berücksichtigen.


Eine auf die Interessen der Menschen ausgerichtete Unterstützung und Begleitung erfordert regelmäßige Übung sowie gegebenenfalls die Abgrenzung von anderen fachlichen Perspektiven. Auch eine kontinuierliche kritische Reflexion fachlich und ethisch verantwortlicher Handlungen ist unabdingbar, insbesondere wenn die Interessen der Person mit organisationalen Anforderungen kollidieren oder Fragen zur Sicherheit hinsichtlich selbst- und fremdgefährdender Verhaltensweisen auftreten. Die im Studium entwickelte und in der Praxis zu festigende professionelle Identität bildet hier die Grundlage dafür, dass die Interessen der Menschen fokussiert werden, anstatt lediglich Wünsche zu erfüllen oder vorgefertigte Maßnahmen unreflektiert anzuwenden.


Im Sinne des Prinzips der Kooperation und Koordination liegt es daher in den kommenden Jahren an uns, theoretische Positionen miteinander in Beziehung zu setzen und in einem offenen Dialog gemeinsame Weiterentwicklungen und Klärungen anzustreben. Ebenso wichtig wird es sein, eine kontinuierliche Vernetzung von Wissenschaft und Praxis zu fördern, um theoretische Erkenntnisse in praktische Schritte umzusetzen und sich dabei gegenseitig zu bereichern. Ziel ist es, maßgeschneiderte Unterstützung anzubieten, die Menschen langfristig die Teilhabe ermöglicht, die ihren individuellen Vorstellungen entspricht.


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