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BTHG: Sozialraumorientierung (1/3)

Teil I: Rechtlicher Rahmen und theoretische Einordnung des Begriffs Sozialraumorientierung

I. Einleitung

Mit der Einführung der dritten Reformstufe des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) steht die neu geregelte Eingliederungshilfe im SGB IX vor der Herausforderung, ihre Leistungen stärker sozialraumorientiert auszurichten. Insbesondere die im SGB IX beschriebenen Leistungen zur sozialen Teilhabe sollen Menschen mit Behinderungen eine gleichberechtigte Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ermöglichen oder erleichtern, indem Unterstützung sowohl im eigenen Wohnraum als auch in ihrem sozialen Umfeld angeboten wird. Der Gesetzestext spezifiziert jedoch nicht, wie Organisationen den Auftrag der Sozialraumorientierung fachlich umsetzen sollen. Um die gesetzlichen Vorgaben in die Praxis umzusetzen, bedarf es daher theoretischer Grundlagen. Hierfür bietet das von Hinte und Kollegen entwickelte Fachkonzept der Sozialraumorientierung fünf Handlungsprinzipien, die Organisationen bei ihrer sozialraumorientierten Entwicklung unterstützen können. Röh und Meins (2021) haben die spezifischen Anforderungen an eine sozialraumorientierte Eingliederungshilfe mit fünf Grundsätzen konkretisiert. Der ergänzende Einbezug des SONI-Schemas von Früchtel, Cyprian und Budde (2013) ermöglicht es, Angebote fundiert sozialraumorientiert zu gestalten. Es bleibt jedoch zu prüfen, ob die gesetzlichen Regelungen des BTHG bzw. des SGB IX einen geeigneten Rahmen bieten, um die leistungsrechtlich vorgeschriebene sozialraumorientierte Ausrichtung tatsächlich gemäß den genannten theoretischen Modellen und Ansätzen umzusetzen.


Für Menschen mit Behinderungen als Zielgruppe der Eingliederungshilfe ist die erfolgreiche Umsetzung von größter Bedeutung. Basierend auf der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-BRK) und der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) wird im SGB IX mit der BTHG-Reform festgehalten, dass Behinderung aus der Wechselwirkung von körperlichen, seelischen, geistigen oder Sinnesbeeinträchtigungen mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren resultiert. Damit wird anerkannt, dass sich die Teilhabemöglichkeiten eines Menschen aus der Interaktion mit der Umwelt ergeben. Die zwingende Notwendigkeit der sozialraumorientierten Ausrichtung von Angeboten der Eingliederungshilfe zur Förderung der Teilhabe ergibt sich aus diesem fachlichen Verständnis. Die vorliegende Beitragsserie analysiert in drei Teilen, wo die Gesetzesreform Grundlagen für sozialraumorientierte Angebote geschaffen hat und welche Rahmenbedingungen weiter erforderlich sind, um die Sozialraumorientierung erfolgreich umzusetzen.


II. BTHG Ausführungsgesetze der Länder und Landesrahmenverträge nach §131 SGB IX als rechtlicher Regelungsrahmen

Die langjährigen Bemühungen um eine umfassende Reform der Leistungen für Menschen mit Behinderungen in Deutschland mündeten Ende 2016 in der Verabschiedung des Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen – bekannt als Bundesteilhabegesetz (BTHG). Dieses Gesetz, das auf der UN-Behindertenrechtskonvention basiert und diese konkretisiert, soll einen notwendigen Paradigmenwechsel in Deutschland einleiten. Mit der Ratifizierung der UN-BRK verpflichtete sich Deutschland, Lebensbedingungen und staatliche Unterstützungsleistungen für Menschen mit Behinderungen zu schaffen, die sich am Leitbild der Selbstbestimmung und Teilhabe orientieren. Eine konsequente Ausrichtung am Modell der ICF, das erklärt, wie Behinderung in der Gesellschaft entsteht, sowie die Einführung neuer fachlicher Indikatoren wie Personenzentrierung und Sozialraumorientierung als Qualitätsmerkmale im BTHG bilden ein Kernelement dieser Weiterentwicklung.


Das BTHG und weitere Gesetze wie das Teilhabestärkungsgesetz verändern die bestehenden Sozialgesetze. Für das betrachtete Thema sind insbesondere die Änderungen im SGB IX – Teil 2 – bezüglich der Eingliederungshilfeleistungen von zentraler Bedeutung.


Diese Rahmenbedingungen werden in den 16 Bundesländern durch Ausführungsgesetze konkretisiert. Der Regelungsrahmen wird durch die Landesrahmenverträge nach § 131 SGB IX ergänzt, die das Zusammenspiel der staatlichen Leistungsträger und der ausführenden Leistungserbringer regeln. Dies führt zu unterschiedlichen Umsetzungsständen des BTHG in den Bundesländern. Häufig wurden Übergangsvereinbarungen getroffen, um die in der dritten Reformstufe verankerte Trennung der Leistungen bis zum 1. Januar 2020 fristgerecht zu bewältigen und so Zeit für die Entwicklung eines neuen Leistungssystems zu gewinnen, das den Leitzielen Teilhabe und Selbstbestimmung entspricht. Rosenow (2020) äußert sich kritisch dazu: Er bemängelt, dass sich Länder und Kommunen sowie Leistungserbringer nach der Verabschiedung des BTHG weniger mit den fachlichen und konzeptionellen Fragen der personenzentrierten Ausrichtung beschäftigt hätten, sondern mehr damit, wie die Trennung der Leistungen möglichst ohne Änderungen der bisherigen Praxis umgesetzt werden könne.


Die aktuellen Entwicklungen neuer Leistungs- und Finanzierungssysteme für Eingliederungshilfeleistungen nach Teil II des SGB IX bieten jedoch grundsätzlich die Chance, die Anforderungen an eine personenzentrierte und sozialraumorientierte Leistungsgestaltung fachlich hochwertig umzusetzen.


III. Sozialraum und Sozialraumorientierung als Begriff und Konzept

Um weiter zu untersuchen, in welchem Maße das BTHG eine Grundlage für sozialraumorientierte Arbeit geschaffen hat, ist es wichtig zu definieren, was unter dem Konzept des Sozialraums sowie der Sozialraumorientierung als professionelle Ausrichtung zu verstehen ist.


Seit dem frühen 20. Jahrhundert sind kontinuierlich soziologische Analysen verfügbar, die den sozialen Raum, seine Struktur und die Faktoren, die ihn beeinflussen, untersuchen. Diese Analysen bilden die Grundlage für das Verständnis des Raumes, das in diesem Beitrag relevant ist: Sozialraum wird nicht als rein geografischer oder administrativer Begriff verstanden, sondern als ein sozial und räumlich strukturierter Kontext, der individuell von Menschen konstruiert, produziert und interpretiert wird. Menschen stehen in unterschiedlichen Beziehungen wie Aufenthalt, Begegnung, Interaktion und Zugehörigkeit zu diesem Raum. Hinte (2014) konkretisiert, dass der Sozialraum eines Menschen durch seine eigenen Interaktionen definiert wird, daher gibt es so viele unterschiedliche Sozialräume, wie es Individuen gibt. Jeder Mensch hat im Alltag verschiedene relevante Bezugspunkte, Orte und Kontakte, die sein soziales Netzwerk und seine Verbindungen bilden. Diese Sozialräume können sich überschneiden, jedoch haben Menschen in derselben Nachbarschaft mit Sicherheit unterschiedliche soziale Räume aufgrund individueller Kontakte. Ein gemeinsamer Bezugspunkt eines solchen Sozialraums könnte beispielsweise die Nutzung von Diensten zur Eingliederungshilfe desselben Anbieters im Stadtviertel sein. Es ist wichtig zu betonen, dass ein Sozialraum nicht statisch ist, sondern vielmehr ein komplexes Geflecht aus teilweise lokalisierbaren und teilweise nicht-lokalisierbaren Bewegungen und interaktiven Verstrickungen darstellt, die den Alltag der Menschen ausmachen und fortlaufenden Veränderungen unterliegen.


Wenn also ein sozialer Raum nicht an einen festen Ort gebunden ist, ergibt sich unmittelbar, was Sozialraumorientierung als fachliche Ausrichtung nicht bedeutet: nämlich die ausschließliche Konzentration auf die messbare oder sichtbare Steigerung der Verbindung und Interaktion von Menschen in ihrem Stadtteil. Wenn durch Unterstützungsmaßnahmen erreicht wird, dass Menschen mit Behinderungen mehr lokale Angebote nutzen, kann dies sicherlich ein Ergebnis einer sozialraumorientierten Herangehensweise sein. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass dies den tatsächlichen Teilhabewünschen und -zielen der betroffenen Person entspricht und somit einen subjektiven Mehrwert im Alltag schafft.


Ähnlich vielfältig wie der Begriff des Sozialraums sind auch die theoretischen Ansätze zur Sozialraumorientierung. Insbesondere im Kontext der Eingliederungshilfe sind die Arbeiten von Hinte sowie von Röh, Meins, Früchtel, Cyprian und Budde relevant, deren Standpunkte im Weiteren skizziert werden.


Gemäß Hinte (2014) ist Sozialraumorientierung ein konzeptioneller Ansatz in der Sozialen Arbeit, der darauf abzielt, Lebenswelten gemeinsam mit den Menschen zu gestalten und Verhältnisse zu schaffen, die ein selbstbestimmteres Leben ermöglichen. Diese Ausrichtung bedeutet eine Abkehr von der Vorstellung, dass individuelle Personen durch pädagogische Maßnahmen verändert werden können. Auf dieser Grundlage entwickelte sich das Fachkonzept von Hinte und seinen Kolleginnen und Kollegen, das zunächst vorwiegend in der Kinder- und Jugendhilfe, inzwischen jedoch auch verstärkt im Bereich der Eingliederungshilfe an Bedeutung gewinnt. Fehren und Kalter (2017) beurteilen dieses Fachkonzept als das differenzierteste und am weitesten entwickelte Modell. Die Planung und Durchführung von sozialraumorientierten Projekten, wie sie unter anderem von Fürst und Hinte (2020) beschrieben werden, verdeutlicht jedoch, dass das Konzept grundsätzlich für die praktische Umsetzung geeignet ist. Es setzt an den individuellen Bedarfen der Menschen an und integriert konsequent das soziale Umfeld der Betroffenen sowie unterstützende Organisationen in die Arbeitsprozesse. Fünf Handlungsprinzipien werden als notwendig erachtet, um Sozialraumorientierung umzusetzen: Fachkräfte müssen sicherstellen, dass ihre Arbeit...


  1. den Interessen und dem Willen der Adressaten entspricht,

  2. die Eigeninitiative und Selbsthilfe fördert,

  3. die Ressourcen der Menschen fokussiert,

  4. eine übergreifende Perspektive auf Zielgruppen und Bereiche einnimmt und

  5. durch Kooperationen mit Fachdiensten, lokalen Einrichtungen und den Bewohnerinnen und Bewohnern im Quartier eine koordinierte Angebotsgestaltung ermöglicht.


Angesichts der spezifischen Bedürfnisse der Adressatinnen und Adressaten sowie der organisatorischen Rahmenbedingungen in der Eingliederungshilfe stellt sich nun die besondere Herausforderung, die Prinzipien auf ihre Übertragbarkeit in diesen Arbeitsbereich zu prüfen und gegebenenfalls anzupassen. Röh und Meins betonen hierzu, dass


„eine Anpassung der Sozialraumorientierung auf das Feld der Behindertenhilfe die speziellen Lebensumstände von Menschen mit Beeinträchtigungen sowie die täglichen Herausforderungen bei der Bewältigung dieser Beeinträchtigungen berücksichtigen sollte. Ebenso ist es wichtig, die spezifischen Merkmale des Hilfesystems sowie die jeweilige historische Entwicklung unter Berücksichtigung der leistungsrechtlichen Rahmenbedingungen zu betrachten.“


Daher ist es für die sozialraumorientierte Praxis in der Eingliederungshilfe entscheidend, die Perspektiven der leistungsberechtigten Person, des Leistungsträgers und der Leistungserbringer zusammenzuführen. Daraus ergeben sich fünf grundlegende Handlungsprinzipien der Sozialraumorientierung im Bereich der Eingliederungshilfe:


  1. Orientierung an den Ressourcen der Menschen,

  2. Förderung der Möglichkeiten und Fähigkeiten zur aktiven Teilnahme an der Nutzung und Erschließung von Ressourcen,

  3. Unterstützung der Selbstbestimmung durch Hilfe bei der Identifizierung, Formulierung und Verfolgung eigener Ziele,

  4. Förderung von Vernetzung und Zusammenarbeit sowie

  5. Einflussnahme und Mitgestaltung von Strukturen auf lokaler, regionaler und gegebenenfalls nationaler und internationaler Ebene, auch gemeinsam mit den Adressatinnen und Adressaten.


Das SONI-Schema nach Früchtel, Cyprian und Budde (2013) stellt ein theoretisches Modell dar, das zusätzliche Klarheit über die Anforderungen an sozialraumorientiertes Handeln bietet. Dabei adressiert das Schema neben der individuellen Lebenswelt, in der mit Einzelpersonen und Netzwerken gearbeitet wird, auch die Systemebene: Das Handlungsfeld Sozialstruktur betont die Notwendigkeit, den Blick auf gesellschaftliche Strukturen zu lenken und deren Auswirkungen auf Inklusion und Gerechtigkeit zu analysieren. Im Handlungsfeld Organisation werden Fachkräfte dazu aufgefordert, kritisch die Strukturen des Unterstützungssystems selbst zu hinterfragen.


Trotz der variierenden Formulierungen handlungsleitender Prinzipien und Grundsätze wird bei der übergreifenden Analyse der vorgestellten Ansätze deutlich, dass Sozialraumorientierung einerseits auf fallbezogene und übergeordnete Aktivitäten in direkter Interaktion mit Menschen und bestehenden Netzwerken in deren Lebenswelten abzielt. Andererseits bedeutet Sozialraumorientierung auch das allgemeine Engagement für die Mitgestaltung von Strukturen und Netzwerken, die daraufhin individuelle Teilhabe ermöglichen. Hierbei ist insbesondere ein organisationaler und rechtlicher Rahmen entscheidend, der eine effektive Zusammenarbeit aller Beteiligten unterstützt. Das Sozialgesetzbuch IX bildet einen bedeutenden Teil dieses übergeordneten Rahmens, auf dessen Grundlage die aus dem Konzept der Sozialraumorientierung abgeleitete fachliche Haltung und entsprechende Arbeitsweisen potenziell wirksam werden können. Die tatsächliche Umsetzung hängt jedoch von der Interpretation des Gesetzes und den damit verbundenen Rahmenbedingungen ab.



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