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BTHG: Sozialraumorientierung (2/3)

Teil II: Der Begriff Sozialraumorientierung im Leistungsrecht und ein Praxisbeispiel möglicher Umsetzungswege


I. Einleitung

Im ersten Teil dieses Beitrags wurde herausgestellt, dass die derzeitigen Entwicklungen neuer Systematiken zur Leistungserbringung und Finanzierung von Eingliederungshilfen gemäß Teil II des SGB IX die Gelegenheit bieten, eine fachlich fundierte Umsetzung einer personenzentrierten und sozialraumorientierten Leistungsgestaltung voranzutreiben. Dabei wurde auch auf theoretische Grundlagen der Sozialraumorientierung eingegangen.


Auf dieser Grundlage werden nun die Übereinstimmungen und Unterschiede zwischen der Verwendung des Begriffs Sozialraum(-orientierung) im Leistungsrecht und den theoretischen Grundlagen dieses Konzepts diskutiert. Anschließend werden Bestandteile des Landesrahmenvertrags Nordrhein-Westfalen (NRW) als ein Beispiel für eine sozialraumorientierte Ausrichtung der Eingliederungshilfe in der Praxis betrachtet, die künftig noch umgesetzt werden soll.


II. Der Begriff der Sozialraumorientierung im leistungsrechtlichen Regelungsrahmen

Durch das Bundesteilhabegesetz (BTHG) wurde die Bedeutung des Sozialraums als gestaltendes Kriterium im SGB IX eingeführt, jedoch nicht detailliert definiert.


Gemäß §76 in Verbindung mit §113 SGB IX werden die Leistungen zur Sozialen Teilhabe beschrieben. Diese Leistungen sollen unter anderem dazu dienen, die Leistungsberechtigten zu einer möglichst selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Lebensführung sowohl im eigenen Wohnraum als auch in ihrem Sozialraum zu befähigen oder sie dabei zu unterstützen. Bereits das vorangehende Gesamtplanverfahren muss gemäß §117 Abs. 1 SGB IX sozialraumorientiert erfolgen.


An dieser Stelle ist es wichtig zu betonen, dass die theoretische Unterscheidung zwischen Wohnraum und Sozialraum, die nicht identisch sind, besonders hervorgehoben werden muss. Wenn der Begriff "sozialraumorientiert" ebenfalls gemäß den theoretischen Ansätzen interpretiert wird, dann sind alle Beteiligten im Leistungsgeschehen dazu aufgerufen, Soziale Teilhabe entlang der methodischen Prinzipien der Sozialraumorientierung oder gemäß den Grundsätzen von Röh und Meins (2021) zu fördern oder ihre eigenen Handlungen explizit an den Handlungsfeldern des SONI-Schemas auszurichten. Diese theoretischen Positionen sollten auch im Rahmen des Gesamtplanverfahrens berücksichtigt werden. Unter Bezugnahme auf das SONI-Schema, das im vorherigen Abschnitt theoretisch eingeführt wurde, bedeutet dies konkret: Die Akteure auf Seiten der Leistungsträger und -erbringer müssen sowohl die Ebene des Individuums und seiner Lebenswelt sowie die umgebenden Netzwerke als auch die Ebenen der Sozialstruktur und Organisation in die Gesamtplanung und die nachfolgende Umsetzung der Angebote einbeziehen. Eine wesentliche Aufgabe der Beteiligten ist daher die kontinuierliche kritische Reflexion und gegebenenfalls die Anpassung von Arbeitsprozessen und strukturellen Barrieren. Denn Soziale Teilhabe wird gemäß unserem Verständnis der Sozialraumorientierung nicht ausreichend gefördert, wenn lediglich fallbezogene Unterstützung bereitgestellt wird, die sich auf die individuellen Bewegungen im definierten Sozialraum der leistungsberechtigten Person beschränkt. Vielmehr bedeutet eine Förderung im Sozialraum, über die spezifischen Einzelfälle hinauszublicken und mit den Akteuren zu interagieren, die den Sozialraum der Leistungsberechtigten beeinflussen, um externe Barrieren der Teilhabe zu bewältigen.


In § 94 Abs. 3 SGB IX ist unter anderem festgelegt, dass es eine Verpflichtung der Länder darstellt, auf am Sozialraum orientierte Angebote von Leistungsanbietern hinzuwirken und in diesem Kontext die Träger der Eingliederungshilfe bei der Erfüllung ihres Sicherstellungsauftrages zu unterstützen. Diese Formulierung gibt den Ländern den klaren Auftrag, Organisationen mit Eingliederungshilfeangeboten so auszustatten, dass sie in der Lage sind, die Fachkonzepte von Hinte und anderen Autoren sowie die Grundsätze von Röh und Meins (2021) umzusetzen und die vollständigen Handlungsfelder des SONI-Schemas zu bedienen. Ähnlich in § 104 SGB IX (Leistungen nach der Besonderheit des Einzelfalles) deutet Absatz 1 darauf hin, dass das BTHG eine gesetzliche Grundlage geschaffen hat, die es ermöglicht, die organisatorischen Voraussetzungen zur Umsetzung einer theoretisch fundierten Sozialraumorientierung einzufordern. Dort heißt es unter anderem:


"Die Leistungen der Eingliederungshilfe werden insbesondere durch den individuellen Bedarf, die persönlichen Verhältnisse, den Sozialraum sowie die eigenen Kräfte und Mittel bestimmt."


Bei genauerer Analyse zeigt sich jedoch, dass die im SGB IX verwendete Begrifflichkeit des Sozialraums nicht an allen Stellen übereinstimmt. Zu Beginn dieses Beitrags wurde erklärt:


"Ein Sozialraum ist nicht einfach ein geografischer Ort, sondern vielmehr ein komplexes Gefüge aus teilweise lokalisierbaren und teilweise nicht-lokalisierbaren Bewegungen und interaktiven Verstrickungen, die den Alltag eines Menschen prägen und ständigen Veränderungen unterliegen."


Im § 97 SGB IX wird festgehalten, dass Fachkräfte der Leistungsträger für die Durchführung der Aufgaben der Eingliederungshilfe "umfassende Kenntnisse über den regionalen Sozialraum und seine Möglichkeiten zur Durchführung von Leistungen der Eingliederungshilfe haben" müssen. Diese Formulierung beschränkt den Sozialraum auf einen klar abgegrenzten regionalen Ort im Leben der Menschen. Dies könnte sich auf die Stadt oder einen Stadtteil beziehen, in dem die Person lebt. Eine solche regionale oder territoriale Fokussierung ermöglicht jedoch keine ganzheitlich sozialraumorientierte Arbeit. Eine solche Begrenzung kann auch die Effektivität entsprechender fachlicher Maßnahmen einschränken, falls der Stadtteil der alleinige Ort für die Gestaltung von Unterstützungsarrangements ist. Denn obwohl die Mobilität von Menschen mit Behinderungen aufgrund persönlicher, einstellungsbasierter und umweltbedingter Barrieren oft eingeschränkt und herausfordernd ist, bedeutet dies nicht zwangsläufig, dass der Hauptaufenthalt im eigenen Stadtteil den Interessen der Menschen und ihren Bedürfnissen nach Teilhabe gerecht wird. Im Einklang mit dem Prinzip der Orientierung an Interessen und am Willen wäre es daher bei umfassender Unterstützung entscheidend, die bedeutungsvollen Lebensorte und -bewegungen der Menschen zu erkunden und Angebote entlang dieser Interessen zu planen, unabhängig davon, ob sie sich auf den Wohnort konzentrieren.


Auch die Formulierung des § 106 SGB IX, der die Beratung und Unterstützung durch den Träger der Eingliederungshilfe beschreibt, lässt Raum für Interpretationen darüber, ob der hier genannte Sozialraum tatsächlich ein umfassendes, nicht örtlich gebundenes Raumverständnis umfasst oder ob vielmehr der örtliche Bezug im Fokus steht, wobei eher der Stadtteil als der Sozialraum gemeint ist. Die im Paragraphen erwähnten "Hilfemöglichkeiten im Sozialraum" und "Beratungsangebote im Sozialraum" können zwar tatsächlich Teil des Sozialraums einer Person sein, wenn sie diese in Anspruch nimmt. Wenn zum Beispiel jemand in der Wiesbeckerstraße lebt, wo sich auch eine Beratungsstelle befindet, ist diese zwar im Stadtteil der Person ansässig, aber nicht zwangsläufig auch ein subjektiv relevanter Bestandteil ihres Sozialraums.


In der Zusammenfassung lässt sich festhalten: Die Anpassungen im SGB IX bieten eine rechtliche Grundlage, um Sozialraumorientierung umzusetzen und dabei auch die erforderlichen Ressourcen in Organisationen zu begründen. Gleichzeitig bleibt jedoch die Abgrenzung zwischen einem Sozialraum-Begriff, der nicht ausschließlich auf örtliche Gegebenheiten festgelegt ist, und einem territorial fokussierten Begriff im Gesetzestext teilweise unklar. Dies birgt die Gefahr einer unscharfen Anwendung von als sozialraumorientiert deklarierten Methoden in der Praxis, ohne dass sie diesem Anspruch vollständig gerecht werden.


In diesem Kontext gewinnt die Feststellung von Röh und Meins (2021) besondere Bedeutung: Die tatsächlichen Auswirkungen der verstärkten sozialräumlichen Ausrichtung des SGB IX auf das Leistungsgeschehen und die Förderung gesellschaftlicher Teilhabe bleiben abzuwarten. Entscheidend wird sein, wie der Begriff von Leistungsträgern, Organisationen und Fachkräften interpretiert wird und welche konkreten Maßnahmen daraus resultieren.


Der neu verhandelte und seit seiner Verabschiedung im Sommer 2019 kontinuierlich weiterentwickelte Landesrahmenvertrag in Nordrhein-Westfalen bietet ein erstes Beispiel dafür, wie die Anforderungen einer sozialräumlich orientierten Eingliederungshilfe in der Praxis umgesetzt werden können, obgleich dies noch ausstehend ist.


III. Praxisbeispiel: Umsetzung der Sozialraumorientierung im Landesrahmenvertrag nach §131 SGB IX NRW

Bei der Umsetzung von Sozialraumorientierung in der Eingliederungshilfe lässt sich grundsätzlich zwischen personenabhängigen und personenunabhängigen sozialraumorientierten Tätigkeiten unterscheiden. Diese Differenzierung steht im Zusammenhang mit der Unterscheidung zwischen fallspezifischer und fallunspezifischer bzw. fallübergreifender Sozialraumarbeit, die bereits im ersten Teil dieses Beitrags eingeführt wurde. Die personenabhängige Perspektive ergibt sich zwangsläufig aus der individuellen Natur der Leistungen nach SGB IX, die immer spezifisch auf die Bedürfnisse einer anspruchsberechtigten Person zugeschnitten sind. Das Bundesteilhabegesetz (BTHG) verfolgt die Leitidee, unterstützende Settings zu schaffen, die personenzentriert und am individuellen Sozialraum jedes Einzelnen ausgerichtet sind, und verbindet somit beide theoretischen Grundlagen.


Durch die Möglichkeit, Leistungen gemeinsam an mehrere Leistungsberechtigte zu erbringen (§ 116 Abs. 2 SGB IX), ergibt sich zusätzlich die Option, sozialraumorientierte Tätigkeiten über Personen hinweg zu gestalten. Es ist wichtig festzuhalten, dass die Kumulation von Leistungen nicht das primäre Ziel oder die Absicht der theoretischen Konzeption der Sozialraumorientierung ist. Dennoch wird durch die Einführung dieser kumulierten Leistungen eine Grundlage geschaffen, um fallunspezifische und -übergreifende Leistungen überhaupt finanziell realisieren zu können, wie im weiteren Verlauf spezifiziert wird.


Der Landesrahmenvertrag NRW (LRV NRW) integriert die oben beschriebenen Überlegungen als Ergebnis eines dreijährigen Prozesses. In dieser Zeit haben die Vertragspartner ein komplexes zukünftiges Modell eines Leistungs- und Vergütungssystems entwickelt, das individuell-zeitbasierte Assistenzleistungen mit tagespauschalbasierten Fachmodulen sowie einem Organisationsmodul kombiniert. Ziel ist es, die vielfältigen Leistungsangebote, die je nach Bedarf der Leistungsberechtigten in Anspruch genommen werden können, angemessen abzubilden.


Das Fachmodul Wohnen (LRV-Anlage A.5.3) soll durch Pauschalierungen die Personalkosten der Eingliederungshilfeangebote, insbesondere der besonderen Wohnformen, sicherstellen. Im bevorstehenden Umstellungsprozess aller Teilhabe-Angebote auf die neue Systematik sind verhandelbare Bestandteile je nach Kontext und Fachkonzeption unter anderem die Kosten für Leistungen zur Erreichbarkeit sowie Präsenzleistungen bei Tag und Nacht, Kosten für gemeinsame Assistenzleitungen zur Lebensweltgestaltung und Gemeinschaftsförderung, sowie die Leistungen der hauswirtschaftlichen und technischen Unterstützung, aber auch die personenunabhängige Sozialraumarbeit. Eine Refinanzierung solcher personenunabhängiger Sozialraumarbeit ist ebenfalls im Fachmodul Tagesstruktur und Schulungen vorgesehen. Die anerkennungsfähigen Tätigkeiten werden in LRV-Anlage J.5 definiert, wobei der Sozialraum dort auf einen territorialen und physischen Raum – Gemeinde, Stadt, Quartier – reduziert wird. Dies steht im Gegensatz zu einem umfassenderen Verständnis des Sozialraums, wie es in diesem Beitrag beschrieben wird, und birgt die Gefahr einer verwässerten Begriffsverwendung. Zur Prävention dieser Problematik wurde im Glossar des LRV NRW (LRV-Anlage J.4) ein gemeinsames Verständnis des Sozialraumbegriffs für den Kontext und die Vertragsgegenstände festgelegt, das betont, dass der Sozialraum für jede leistungsberechtigte Person unterschiedlich ist. Gleichzeitig wird klargestellt, dass der Begriff im Rahmen politisch-administrativer und sozialplanerischer Vorhaben als ein sozial, geographisch und strukturell abgrenzbarer Raum definiert wird.


Die Konkretisierung der personenunabhängigen Sozialraumarbeit für die Fachmodule erfolgt jedoch mit einem strukturell abgrenzbaren Raumbegriff, was in gewissem Widerspruch zum Ziel der Personenzentrierung steht. Es ist anzuerkennen, dass diese Tätigkeiten sich an einem physischen Ort befinden und fallunspezifische sowie -übergreifende Tätigkeiten dort sichtbar gemacht werden. Dennoch stellt sich die Frage nach der Ausklammerung nicht-physischer Räume wie dem digitalen Raum, der im 21. Jahrhundert auch für Menschen mit Behinderungen ein bedeutender Ort sozialer Kontakte ist.


Trotz dieser kritischen Anmerkungen ist es äußerst positiv zu bewerten, dass Tätigkeiten der personenunabhängigen Sozialraumarbeit refinanzierbar werden. Dies umfasst beispielhaft:


  • die Kooperation und gezielte Vernetzung mit anderen professionellen und informellen Akteuren im Sozialraum zur Anpassung/Ausbau des Sozialraums gemäß den Bedarfen der Klientinnen und Klienten,

  • die Mitarbeit an Quartiersentwicklungsprojekten,

  • die Mitarbeit an der Entwicklung von Quartierstreffpunkten, sowie

  • die Mitarbeit am Aufbau und der Pflege einer systematischen Erfassung von Angeboten im Quartier.


Nach erster Betrachtung kann festgestellt werden, dass die hier vorgestellte Systematik ein konkreter Versuch ist, die Leitidee der Sozialraumorientierung zu bekräftigen und im Rahmen der Eingliederungshilfeleistungen umzusetzen. Sozialraumorientierte Arbeit erhält damit einen klar definierten Platz in der Gestaltung der Leistungen und wird mit spezifischen Ressourcen ausgestattet. Dadurch soll eine Abkehr vom bisherigen Ansatz erfolgen, bei dem die Beteiligung am Sozialraum eher nebenbei und abhängig von Faktoren wie Zeit, Motivation und Sachzwängen erfolgte. Eine potenziell deutliche Wirkung kann auch durch die Kombination der verstärkt geforderten personenabhängigen sozialraumorientierten Unterstützung für den Einzelfall durch individuelle Assistenzen (auch in besonderen Wohnformen) mit der personenunabhängigen Sozialraumarbeit für mehrere Leistungsberechtigte erzielt werden, um einen inklusiven Sozialraum mit verbesserten Teilhabemöglichkeiten grundsätzlich zu gestalten.


Dieser Ansatz, individuelle Ansprüche auf Sozialleistungen zu bündeln und in das Gemeinwesen umzuleiten, muss vorerst weiter verfolgt werden, bis möglicherweise (kommunale) Regelfinanzierungen für Quartiersarbeit geschaffen werden können. Solche Finanzierungen könnten nicht nur das Ziel einer inklusiven Gesellschaft fördern, die Teilhabe und Teilgabe für Menschen mit Behinderungen ermöglicht, sondern auch notwendige Gegenentwicklungen in einer sich zunehmend individualisierenden und separierenden Gesellschaft anbieten.


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