Die Begeisterung für künstliche Intelligenz (KI) ist weit verbreitet. Alle Sektoren sind auf der Suche nach Möglichkeiten, KI effektiv und profitabel in ihre Prozesse und Produkte zu integrieren. Es liegt auf der Hand, KI auch im psychiatrischen Bereich einzusetzen, um Therapien zu optimieren, Wartezeiten zu verkürzen, den Mangel an Fachkräften zu kompensieren oder Kosten zu reduzieren. Besonders faszinierend sind die Fähigkeiten der KI, Muster in großen Datenmengen zu identifizieren und menschliche Sprache und Denkweisen zu simulieren.
Der US-Unternehmen OpenAI hat maßgeblich zum öffentlichen Interesse beigetragen, indem es im November 2022 den Chatbot ChatGPT für die Allgemeinheit zugänglich gemacht hat. Das Revolutionäre daran ist, dass Menschen nicht mehr eine Programmiersprache beherrschen müssen, um mit einer KI zu interagieren. Stattdessen nutzen sie ein intuitives Werkzeug: ihre eigene Sprache. Die Nutzerzahlen stiegen schnell an und auch außerhalb der IT-Branche wurde nun sichtbar, was KI leisten kann. Daher fragen sich einige: Kann ChatGPT auch bei psychischen Problemen Unterstützung bieten?
Technisch gesehen sind die zukünftigen Anwendungsmöglichkeiten nahezu unbegrenzt. Angesichts der Tatsache, dass in Deutschland jedes Jahr mehr als ein Viertel der Erwachsenen an einer psychischen Erkrankung leidet, die zu den vier Hauptursachen für den Verlust gesunder Lebensjahre zählt, liegt es nahe, die Fähigkeiten der KI bei der Diagnose, Behandlung und sogar Prävention von psychischen Krankheiten genauer zu untersuchen.
Wie kann KI in der Medizin genutzt werden?
Die in der Medizin verwendete KI kann in zwei Untergruppen eingeteilt werden: Virtuelle und physische Anwendungen. Während der virtuelle Bereich Software beinhaltet, wird der physische Bereich hauptsächlich durch Roboter repräsentiert. Im Rahmen der psychologischen Diagnose und Behandlung bieten sich insbesondere Chatbots oder Virtuelle Agenten an, die zu den virtuellen Gesundheitsanwendungen zählen, aufgrund ihrer flexiblen und vielfältigen Bereitstellungs- und Zugriffsoptionen. Chatbots sind eine vollautomatisierte Form von Gesundheitsanwendungen und basieren entweder auf Text- oder Sprachaustausch mit den Nutzern. Dabei findet ein Dialog zwischen dem Nutzer und einer KI über eine Interaktionsschnittstelle (zum Beispiel eine App) statt.
Bei sogenannten Virtuellen Agenten wird zusätzlich eine menschenähnliche Darstellung einer Person erzeugt, mit der sowohl per Pop-Up auf dem Smartphone als auch in Verbindung mit VR-Brillen von Angesicht zu Angesicht kommuniziert werden kann. Dieser face-to-face Kommunikation wird eine große Bedeutung im therapeutischen Gespräch beigemessen, da der Einsatz von Mimik und Gestik einen direkten Einfluss auf die Interaktion und Kommunikation mit dem Patienten/Nutzer hat.
Beide Anwendungsformen, sowohl Chatbots als auch Virtuelle Agenten, zielen darauf ab, Menschen bei Angst, Stress, Einsamkeit, Trauer und Schlafstörungen bis hin zu Depressionen zu unterstützen oder sogar das Suizidrisiko in Echtzeit vorherzusagen, sodass medizinisches Personal eingreifen und Selbstmorde verhindern kann.
Neben der Beantwortung von Fragen zu medizinischen Themen, der Bereitstellung von Informationen oder der Unterstützung bei der Vervollständigung diagnostischer Selbstbewertungsinstrumente bieten KI-basierte Chatbots und Virtuelle Agenten auch therapeutische Unterstützung, zum Beispiel durch die Bereitstellung von Bewältigungsstrategien, durch das Reframing von Gedanken, Anleitung zur achtsamen Atmung und motivierende Interviews in Form von Spielen und Videoclips. Jede dieser Interventionen wird auf Basis der Chat-Historie personalisiert, variiert und basiert auf einer Datenbank, die ständig von Fachexperten erweitert wird.
Die ersten computergestützten und KI-ähnlichen Werkzeuge zur psychiatrischen Diagnose wurden bereits in den 1960er und 70er Jahren entwickelt. 1966 entwickelte der Informatiker Joseph Weizenbaum “Eliza”, ein Computerprogramm, das Psychotherapiesitzungen simulieren und auf der Grundlage der vom Nutzer gegebenen Antworten neue Fragen formulieren kann. Mittlerweile ist die technologische Entwicklung so weit fortgeschritten, dass mit Hilfe von KI im Rahmen von Online-Kursen und Anwendungen Psychotherapien angeboten werden können.
Emotionserkennung und KI
In der Psychiatrie und Psychotherapie wird die KI den Menschen (noch) nicht ersetzen. Sie dient eher als ein Instrument, das gezielt genutzt und überwacht wird, um bestehende Therapien zu optimieren oder völlig neue Therapieformen zu ermöglichen. An der Universität Basel wird der Einsatz von künstlicher Intelligenz als Unterstützung in der Psychotherapie getestet. Es wird untersucht, ob KIs in der Lage sind, die emotionale Verfassung von Patienten in Videoaufnahmen von Therapiesitzungen zuverlässig zu ermitteln.
Die KI verwendet dabei ein Kodierungssystem, das in den 1970er Jahren vom Psychologen Paul Elkmann entwickelt wurde, um einem Gesichtsausdruck auf einem Bild oder in einer Videosequenz Emotionen wie Freude, Abscheu oder Trauer zuzuweisen. Die Forscher verwendeten ein frei verfügbares KI-Modell, das mit 30.000 Fotos auf die sechs Grundemotionen trainiert wurde, zur Analyse von Therapiesitzungen mit 23 Borderline-Patienten. Dabei wurden mehr als 950 Stunden Videomaterial verarbeitet.
Das Ergebnis: Der statistische Vergleich zwischen der Auswertung von drei ausgebildeten Therapeuten und der KI zeigte eine bemerkenswerte Übereinstimmung - wobei die KI nicht nur deutlich schneller arbeitete, sondern auch wichtige, flüchtige emotionale Reaktionen für die Beurteilung erfasste. Es war überraschend, dass relativ einfache KI-Systeme so robust Gesichtsausdrücke in Bezug auf ihre emotionalen Reaktionen interpretieren können.
Die Algorithmen psychischer Erkrankungen
Im Jahr 2023 wurde das Hector Institut für KI in der Psychiatrie am Zentralinstitut für seelische Gesundheit in Mannheim gegründet. Sein Ziel ist es, umfangreiche Datenmengen zu analysieren und die Versorgung mithilfe von KI und speziell entwickelten Algorithmen zu verbessern. Die Forscher streben an, die Ursachen psychischer Erkrankungen zu erforschen und die Diagnose und Behandlung auf individueller Ebene zu verbessern. Sie planen, Muster in komplexen Datensätzen mit Hilfe der KI zu identifizieren. Sie kombinieren wissenschaftliche Daten mit klinischen Informationen, um Modelle zu entwickeln, die die Behandlung genau auf individuelle Risiko- und Schutzfaktoren abstimmen.
Um diese Faktoren zu verstehen, müssen Informationen aus verschiedenen Quellen zusammengeführt werden - aus der Klinik, aus Patientengesprächen und auch aus der Bildgebung. Diese Informationen umfassen biologische und genetische Daten. Die Muster, die die KI in diesen Daten erkennt, sollen den Behandlern helfen, die Ursachen für psychische Erkrankungen zu ermitteln. Das Ziel ist es, eine individuell angepasste Therapie für die Patienten aus diesen Daten abzuleiten.
Das Projekt CARE, das von der Heinrich-Heine-Universität/ LVR Düsseldorf geleitet und in neun Bundesländern durchgeführt wird, steht für computerunterstützte Risikobewertung und risikoadaptierte Behandlung bei erhöhtem Risiko für die Entwicklung einer Psychose. Diese neue Versorgungsform wird in einem deutschlandweiten, fachübergreifenden psychiatrischen Netzwerk von Früherkennungs- und Therapiezentren getestet. Patienten, die an dem Programm teilnehmen, erhalten eine vertiefte klinische Diagnose und eine individuelle Risikobewertung durch KI-Verfahren hinsichtlich ihres Risikos, innerhalb der nächsten zwölf Monate eine Psychose zu entwickeln. Nach der Diagnose wird bei Bedarf eine individuelle, modular gestaltete Psychotherapie über sechs Monate durchgeführt, um psychiatrische Erkrankungen zu verhindern oder Krankheitsverläufe deutlich zu mildern. Für die Vorhersage werden klinische Informationen, zerebrale Magnetresonanztomographie (MRT) und die Ergebnisse einer neuropsychologischen Untersuchung genutzt.
KI als Assistenz für die sozialpsychiatrische Fachkraft?
KI und speziell Chatbots sind nicht nur für Forschung und Behandlung nützlich, sondern auch für den Sozialsektor. Sie können als Autoren für Fachkommunikation eingesetzt werden, insbesondere für Werbetexte, fachliche Korrespondenz oder Berichte, um diese zu optimieren oder zu übersetzen. Auf diese Weise wird die KI effektiv zu einer Unterstützung für Fachleute. Aus Datenschutzgründen ist es jedoch unerlässlich, dass nicht kommerzielle Sprachmodelle wie ChatGPT verwendet werden, sondern ein frei verfügbares Open-Source-Modell auf den eigenen Servern der Organisation, das mit den eigenen Daten arbeitet.
Durch die Verlagerung zeitaufwändiger Aufgaben an die KI können die Ressourcen der Mitarbeiter besser für den direkten Kontakt mit den Klienten genutzt werden. Damit dies funktioniert, müssen die Mitarbeiter die Verarbeitungslogik der KI verstehen und das sogenannte Prompt Engineering beherrschen - also die Fähigkeit, den Chatbot optimal per Sprache zu steuern. Für die IT-Abteilung bedeutet dies, sich mit geeigneten KI-Modellen auseinanderzusetzen, einen eigenen KI-Server zu erstellen, Trainingsdaten aus der eigenen Organisation zu verarbeiten und Schnittstellen zur Fachsoftware zu erstellen.
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